Vom Mythos der Existenzgründung – Überlegungen aus der Perspektive eines Coaches

Vom Mythos der Existenzgründung – Überlegungen aus der Perspektive eines Coaches

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Das verführerische Bild

Schauen wir zunächst einmal, was einem Existenzgründer im Allgemeinen heute geraten wird zu tun. Man sagt ihm, dass er eine Geschäftsidee entwickeln und eine detailliertere Konzeption schreiben muss. Ein Steuerberater muss hinzugezogen, Kredite beantragt und Kostenpläne aufgestellt werden. Das sind nur einige Punkte, auf die der Betreffende hingewiesen wird. Es ist also viel Aktion gefragt. Das erinnert in einigen Punkten an den Bau eines Eigenheims und an die hierzu erforderlichen Vorbereitungen. Damit wird die Existenzgründung auch häufig verglichen. Für viele ist das eigene Haus der Traum, den man sich erfüllen möchte. Wenn man es erst mal ge-schafft hat, die Gründungsphase beim Hausbau zu überstehen, so steht es auch schon bald. Es ist bekannt, was man hierzu braucht: ein Grundstück, die Pläne eines Architekten und nicht zuletzt muss dann auch noch der Finanzierungsplan stehen. „Gründung gut, alles gut“, so könnte das Motto bei einem Hausbau lauten. Schon bei Baubeginn ist der Erfolg abzusehen. Kann derjenige, der eine Selbststän-digkeit anstrebt, nicht ähnlich erhebende Gefühle haben wie der Bauherr, der seine Finanzierung gesichert hat und bei der so genannten Grundsteinlegung persönlich mit Hand anlegt? Ist er als Existenzgründer nicht so etwas wie ein Pionier, der nach vorne prescht, aktiv ist und sein Schicksal in die Hand nimmt? Die Existenzgründung ist doch etwas Großartiges und für viele verbunden mit großen Idealen. Da schwingen Vorstellungen mit wie „ich will mein eigener Chef sein“, „kann endlich meine eigenen Ideen verwirklichen“ und „bestimmen, wo es lang geht“. „Niemand kann mir in meine Arbeit reinreden“. Diese Vorstellungen und Bilder sind verführerisch. Wer möchte denn nicht möglichst selbstständig leben und arbeiten?

Ein passenderes Bild und seine Ernüchterungen

Etwas stimmt bei dem Vergleich mit dem Hausbau aber nicht. Die „Selbst-ständigkeits-Gründung“ lässt sich besser von einem anderen Bild her verstehen, das den Blick auf einen wichtigen Unterschied lenkt. Als die Engländer in die Neue Welt (Amerika) auf-gebrochen sind, haben sie sich auf ein großes Risiko und auf Ungewissheit eingelassen. Sie haben den Schritt gewagt und sind auf große Fahrt gegangen. Das barg große Gefahren, aber auch Chancen. Alles Hab und Gut, einschließlich der Familie, musste verlassen oder aber mit auf die große Fahrt genommen werden. In der ri-sikoreichen Zeit der Überfahrt galt es, viele Ängste und Nöte zu überstehen. Die Angst bei großem Sturm etwa, ver-bunden mit Orientierungslosigkeit und der Angst unterzugehen oder Angst da­vor, dass der Proviant nicht ausreicht, etc. Die Überfahrt in die Neue Welt ent­spräche, um in dem Bild zu bleiben, der Existenzgründung allen-falls in einer ersten Phase. Wer gut gerüstet und gut vorbereitet war, hatte irgendwann die Überfahrt ge­schafft. Doch legte das Schiff nun in einem sicheren Hafen an? Wo waren sie an-gekommen? Auf was mussten sie sich mit ihren Familien einlassen in der Neuen Welt? Hier gab es neue, ganz unerwartete Gefahren, die auf sie warteten. Jetzt erst ging das eigentliche Risiko los. Die Pioniere mussten sich über Jahre hinweg eigentlich immer wieder auf unerwartete, aber über ihre Existenz entscheidende Situationen einstellen.

Prozess ohne Ende

Dieser Vergleich soll einen Punkt ganz deutlich machen: die Existenzgrün-dung ist nie abgeschlossen. Reduziert man das Thema Existenzgründung nur auf die Einstiegsphase – sprich auf die Überfahrt – wird vergessen, dass es nach dem Einstieg heißt: Du musst am Ball bleiben, weiterkämpfen und zu manch weiterem Risiko bereit sein. Du musst Durststrecken überwinden, ständig die eige­nen Ziele überprüfen und flexibel sein. Man könnte mit dem Bild der Übersiedler sagen: Die Exis-tenzgründung hört mit der eigentlichen Gründung nicht auf, sie fängt damit erst richtig an. Bildanalytisch gesehen ist die Existenzgründung kein Akt, sondern ein Prozess.

Vorausgehendes Leid

Zu einem solchen Prozess gehört vor allen Dingen auch eine längere Vorlaufs- oder Vorbereitungszeit. Vielleicht rumort irgendetwas schon sehr lange in einem und ein länger andauerndes Leid geht voraus. Jemand hatte vielleicht immer wieder nur schlechte Jobs oder war stets in Konfrontation mit seinen Vorgesetzten, oder er wurde unerwartet arbeitslos. Vielleicht geriet er auch unter finanziellen Druck, weil sich Nachwuchs in der Familie einstellte. Der Betroffene fragt sich vielleicht, ob er zur Selbstständigkeit überhaupt geeignet ist und wie er es schaffen kann, sich mit seiner Idee am Markt bekannt zu machen oder wie er sich auch dann be­haupten kann, wenn es schwierig wird. Solche und ähnliche Fragen könnten Existenzgründer schon lange vor der eigentlichen Entscheidung bewegen.


Bildquellen

  • Überfahrt: Karin Fischer