Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

Zur Digest-Version: „Von Liebe und Lust“

In jeder Ausgabe geben wir Texten einen Raum, die nur schwer oder gar nicht mehr zu erhalten sind. Das kann z.B. ein Buch sein, das vergriffen ist, von dem wir aber meinen, dass es uns heute etwas Wichtiges zu sagen hat, und dass es schade wäre, wenn der entsprechende Text nicht gelesen würde. In der vorliegenden Ausgabe haben wir für diese Rubrik „Re-Spekt“ einen Text von Theodor Reik ausgewählt. Es handelt sich in diesem Fall um ein umfangreiches Buch mit dem Titel „Von Liebe und Lust“ und dem Untertitel `Über die Psychoanalyse romantischer und sexueller Emotionen’.

Theodor Reik hat sich als DER Nichtmediziner im Kreise der Freudschen Schüler einen Namen gemacht. Er sah in der Psychoanalyse mehr als die meisten seiner Schüler-Kollegen eine eigene Wissenschaft; eine Wissenschaft, die nicht am Tropf einer anderen Wissenschaft zu hängen hat. Seine Forschung hat etwas ausgesprochen Frisches. In seinen Beschreibungen zum Prozess des Sich-Verliebens entwirft er eine Dramatik, die uns überzeugt und zwar ohne dass die `verrückten‘ Übergänge darin auf ein vorgegebenes System von Erklärungen zurückgeführt werden müssen. Das gefällt uns!

Die Entwicklung seines Gedankengangs konnten wir durch eine geschickte Auswahl von Passagen aus seinem Buch leicht nachvollziehbar machen. (Das seit längerem vergriffene Werk umfasste ursprünglich ca. 400 Seiten und wurde hier auf 42 Seiten gekürzt.)
Es war keine Einmischung mit eigenem Text nötig, um ein flüssiges Lesen und Nachentwickeln seiner Gedanken möglich zu machen. Das, so glauben wir, spricht ebenfalls für die Qualität seiner Arbeit.

Von Liebe und Lust

Theodor Reik.

Über die Psychoanalyse romantischer und sexueller Emotionen
(Auszüge aus dem Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1985)

[…] Ursprung und Wesen der Liebe
1
Zunächst möchte ich die Beschaffenheit des Bodens beschreiben, auf dem die kostbare Pflanze der Liebe gedeiht. Ich werde diese Bedingun­gen – die psychische Bereitschaft – viel stärker hervorheben als die Auto­ren, die sich vor mir mit diesem Thema beschäftigt haben, weil ich ihre Bedeutung so hoch einschätze. Die Psychologen scheinen wie die Lie­benden selbst zu denken, daß die Liebe die Menschen als etwas Unver­meidliches überkommt, daß sie ein Blitz aus heiterem Himmel ist. Und die Liebenden scheinen anzunehmen, daß dieses Erlebnis die Lösung aller Probleme darstellt. Sie vergessen dabei zu erwähnen, daß es vorher tatsächlich Probleme gab.
Ich will diese Analyse nicht mit dem Wesen der Liebe beginnen, sondern mit einer Untersuchung dessen, was ihrem Erscheinen vorausgeht, so wie ein guter Biograph nicht mit der Geburt seines Helden beginnt, son­dern uns zuerst eine Vorstellung davon vermittelt, wer seine Vorfahren waren und welcher Herkunft er ist. Die erste Frage lautet daher: Wer verliebt sich? Und die zweite: Warum verliebt er sich? Die Antwort auf die erste Fräge scheint leicht zu sein: jedermann. Die zweite Frage läßt sich scheinbar ebenso leicht beantworten: Weil es einen liebenswerten Menschen gibt. Es scheint nur auf eine günstige Gelegenheit nach dem Schema »Mann trifft Frau« anzukommen.
Aber so leicht ist unsere Neugier nicht befriedigt. Wir wollen wissen, was für eine Art von Mann. Wir wollen seine psychische Einstellung, bevor er der Frau begegnete, kennenlernen. Wir können ebensowenig sagen, daß sich jeder Mann und jede Frau – so unterschiedlich sie auch sein mögen – zu einem bestimmten Zeitpunkt verliebt, wie wir behaup­ten können, daß jedes Kind notwendigerweise die Masern bekommt. Es muß sich um ein sehr persönliches Erlebnis handeln, das durch verschie­dene Faktoren im Innern des Individuums bestimmt wird und das Ergeb­nis seiner emotionalen Geschichte ist. Wie jemand liebt und wann und unter welchen besonderen Bedingungen, hängt davon ab, was für eine Art von Mensch er ist, in welcher psychischen Situation er sich befindet und wie stark oder schwach seine einander widersprechenden Neigun­gen sind. Es gibt keine Liebesgeschichte als solche. Die Liebe ist eine Geschichte innerhalb einer Geschichte.
Aber wie steht es dann mit der Liebe auf den ersten Blick? Deutet nicht allein schon ein Ausdruck wie »sich verknallen« die Plötzlichkeit und Heftigkeit der Leidenschaft an? Wir neigen dazu, uns vorzustellen, daß die Liebe einen Menschen wie ein Schlag trifft oder daß plötzlich eine Falle zuschnappt. Der erste Vergleich ist ebenso falsch wie der zweite. Es gibt keinen Schlag, keinen coup de foudre, wie die Franzosen sagen; auch nicht bei der Liebe auf den ersten Blick. Alles ist vorbereitet. Niemand geht in die Falle. Er oder sie springt vielmehr hinein. Man kann ein Mäd­chen zu einer Freundin sagen hören: »Ich könnte mich in ihn verlieben, wenn ich wollte.« Was für eine Art von Sichverlieben ist das? Man kann allenfalls sagen, daß ein Mensch nicht fällt, sondern sich fallen läßt. (Der Autor bezieht sich auf die englische Wendung für »sich verlieben« = to fall in love. Anm. des Übers.) Ich spreche hier von den verschiedensten Arten von Liebe, von einer vorübergehenden Verliebtheit bis zur dauer­haften Zuneigung, von einer flüchtigen Neigung bis zur Leidenschaft Romeos für Julia. Ich schließe sogar die Fälle mit ein, in denen sich Men­schen verlieben und wieder »entlieben«, als wäre das Ganze eine Art von Gesellschaftsspiel oder gymnastischer Übung.
Der normale Lebensrhythmus schwankt im allgemeinen zwischen einer gewissen Zufriedenheit mit sich selbst und einem leichten Unbe­hagen, das von der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeiten her­rührt. Wir möchten gern ebenso schön, jung, stark oder klug sein wie andere, die wir kennen. Wir möchten gern so viel erreichen wie sie und sehnen uns nach ähnlichen Vorteilen oder Positionen, nach ebensoviel oder noch mehr Erfolg. Mit sich selbst völlig zufrieden zu sein, ist die Ausnahme und nicht selten nur ein Nebelvorhang, den wir für uns selbst und natürlich für andere produzieren. Irgendwo in die­sem Nebel lauern ein Gefühl der Unzufriedenheit mit uns selbst und eine leichte Abneigung gegen uns selbst. Ich behaupte nun, daß eine Steigerung dieses Geistes der Unzufriedenheit eines Menschen beson­ders anfällig für das »Sichverlieben« macht. Wir können den Grad der Verschlimmerung des Zustandes nicht messen. Er variiert in den ein­zelnen Fällen. Solche Veränderungen gehen nicht plötzlich vor sich, sondern häufig so allmählich, daß die Freunde und oft die Betroffenen selbst nichts davon bemerken.
Ein Mensch verliebt sich daher, er »fällt in die Liebe«, um nicht in eine noch tiefere Grube zu fallen. Für den, der verliebt ist, steht alles zum besten, aber schlecht geht es dem, der im Begriff ist, sich zu verlieben. Es kommt nicht von ungefähr, daß Faust verzweifelt ist, als er die Vergeb­lichkeit seiner Versuche erkennt, in die Geheimnisse der Welt einzu­dringen, bevor er Gretchen begegnet, deren Liebe Jugend und Glück verspricht.
Solche Stimmungen durchlaufen die ganze Skala der Unzufriedenheit von der Dämmerung bis zur Dunkelheit, von dem Wunsch, allem (oft auch sich selbst) zu entfliehen, bis zu echtem Lebensüberdruß. Manch­mal hat jemand nur den Wunsch, seine Umgebung zu ändern, denn das Glück ist dort, wo man nicht ist, wie es in dem Schubert-Lied heißt. Ein Schatten ist auf das Ich gefallen, auch in scheinbar ganz unbedeutenden Dingen, denn auch in ihnen ist ein psychischer Mißklang vorhanden, aber das Unbehagen ist tiefer verborgen, auch vor dem eigenen Ich. »Ich mag nicht Joe sein«, sagte ein Patient, kurz bevor er sich verliebte. Man empfindet eine innere Unruhe, ein Mißfallen an sich selbst, ein Ge­fühl der eigenen Unzulänglichkeit. All das ist für die Situation charak­teristisch.
Man kann nun fragen: Wie kommt es, wenn Liebe einem solchen Zu­stand der Unzufriedenheit entspringt, daß so viele Menschen, die in die­sem Gemütszustand leben, sich nicht verlieben? Meine Antwort lautet, daß Liebe nur eine der Möglichkeiten ist, dieses Unbehagen zu beenden. Der mit sich selbst Unzufriedene kann sich auch »verhassen«. Das heißt, er kann feindselige Gefühle gegen andere hegen, die mit sich selbst zu­friedener sind. Er kann die Abneigung gegen sich selbst in Abneigung gegen andere verwandeln. Andere Möglichkeiten versprechen noch mehr Erfolg. Er kann etwas leisten oder erreichen, was seine psychische Notlage beseitigt oder erleichtert und ihn mit neuem Selbstvertrauen und neuer Selbstachtung erfüllt. Dann kann er auch weniger strenge Forde­rungen an sich selbst stellen. Gerade durch diese Forderungen wird näm­lich die Unzufriedenheit innerhalb des eigenen Ichs geschürt. Man mag sich fragen, warum dieser Weg nicht öfter gewählt wird. Es scheint, daß Männer wie Frauen die anderen Lösungen vorziehen. Wir können nur annehmen, daß sie der Stolz daran hindert, die Forderungen zu reduzie­ren, die sie an sich selbst stellen.
All diese Methoden, die innere Verstimmung zu beseitigen oder zu er­leichtern, können mit den verschiedenen therapeutischen Maßnahmen verglichen werden, mit denen man eine spezifische Krankheit behandelt. Wir können den Vergleich sogar noch weiter treiben. Die Liebe hat alle typischen Merkmale einer Erholung von einer unbewußten Niederlage, unter der das Ich leidet. Oder besser gesagt: Sie ist ein Versuch zu gene­sen. Die Wiederherstellung der Gesundheit ist das angestrebte, aber nicht immer erreichte Ziel. Eine glückliche Liebe bedeutet, daß die ver­suchte Kur Erfolg hatte. Eine Zunahme der inneren Unzufriedenheit ist die Gefahr, die droht, und sie zeigt an, daß das Unternehmen geschei­tert ist.
Was uns zur Liebe treibt, ist also ein Bemühen, innerer Unzufriedenheit zu entgehen. Sie nimmt die Stelle eines ursprünglichen Strebens nach Selbstvervollkommnung ein und ist mit dem Ehrgeiz verwandt. Zu lie­ben, erfüllt dieses Streben und wird als Leistung empfunden. Das klingt nicht sehr romantisch, aber wir haben uns vorgenommen, das Wesen der Leidenschaft sachlich zu betrachten. Wir wollen keine Gefühle über Tat­sachen, sondern Tatsachen über Gefühle wissen.


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