Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Der Wechsel des Ichideals spielt auch eine entscheidende Rolle in den Fällen, in denen jemand eine Zuneigung von einem Objekt ab- und einem anderen zuwendet. Der andere Mensch scheint nun das unbe­wußte Ichideal besser zu verkörpern als der frühere. Nach der Enttäu­schung erkennt er, daß die Liebe eine Illusion war. Wenn er dem guten alten Schema folgte und sein Heil in der Liebe suchte, erkennt er viel­leicht jetzt in seiner Enttäuschung, daß er ein heilloser Narr war. Ohne die Glorie-.der Liebe steht das Ich wieder dort, wo es vorher war –Oder beinahe dort. Der Mensch fühlt sich wieder unwürdig. Wieder ist er das Opfer von innerer Zwietracht- und -Depressionen. Er gehört wieder zu den Habenichtsen dieser Welt..
Die Natur hat überall einen Horror vacui, auch in der emotionalen Sphäre. Die Freiheit von Not und Mangel wird auch hier ersehnt. Aber alles, was der Mensch in der Liebe gewonnen hat, oder beinahe alles, ist wieder verloren. Das Gefühl des Einsseins ist wie durch Zauber ver­schwunden. Jeder lebt wieder in seiner eigenen Welt, aus der der andere ausgeschlossen ist. Der andere ist wieder irgendein Mann oder irgend­eine Frau, nicht mehr und manchmal sogar weniger. Die beiden führen ein getrenntes Leben, in dem nicht das Bedürfnis besteht, Erlebnisse mit­einander zu teilen. Das Dasein ist wieder traurig, schwierig und freudlos geworden. Selbst während der Zeit der Liebe gab es plötzlich Augen­blicke einer unbestimmten Angst und Qual. Die Liebenden fühlten die Unfähigkeit, die Schranken der Individualität, die sie trennten, zu über­schreiten, jene unsichtbare Grenze, die durch ihre verschiedenen Natu­ren entstand. Ihre Zuneigung hat nicht mehr den Überschwang, die Lei­denschaft und Kraft der ersten Zeit. Es hatte zuvor schon Augenblicke gegeben, in denen sie ahnten, daß es keinen Ausweg aus der Einsamkeit des Menschen gibt. Aber nun sind sie davon überzeugt. Ich bin ich, und du bist du, und wir werden getrennt bleiben. Zuletzt erscheint das Ob­jekt als ein Wesen, von dem man nichts weiß und für das man sich nicht mehr interessiert. Zwischen dem einen und dem andern steht eine Mauer. Das Ich ist eine Insel ohne dauerhafte Verbindung mit dem Festland.

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Das Ende der Liebe beginnt mit dem Auftreten derselben Phasen wie am Anfang, aber in umgekehrter Reihenfolge. Wieder gibt es Gereiztheit und Groll gegenüber dem Objekt, Widerwillen, der sich bis zu unaus­sprechlichem Abscheu steigern kann. Die im Schwinden begriffene Liebe ist dem Haß näher als der Gleichgültigkeit, und der Haß tritt als Nachspiel auf, so wie er das unbewußte Vorspiel zur Liebe war. Wieder kommt es zur Auflehnung gegen die emotionale Abhängigkeit vom Ob­jekt. Sogar zur Zeit der Liebe gab es plötzliche und rätselhafte Strömun­gen der Feindseligkeit, aber sie verschwanden wieder rasch wie Wolken, die die Sonne für einige Minuten verdunkeln. Doch nun erscheint der ganze Horizont wieder schwarz wie vor einem Gewitter. Man kann wieder den Versuch beobachten, das Objekt abzuwerten und herabzuset­zen, aber nun hat dieser Versuch Erfolg. Man wiederholt in Gedanken die Worte und Handlungen des Objekts, fühlt sich in seinem Stolz ver­letzt, und die scharfe Kritik, die durch die Liebe verhindert wurde, wird laut. Dinge, die einen zuvor entzückten, machen einen ungeduldig, kleine Cewohnheiten reizen einen. Man möchte den anderen verletzen, ja manchmal sogar das einst so geliebte Gesicht schlagen. Das ist die Wahrheit, und es hat keinen Zweck, die emotionale Situation zu beschö­nigen oder abzumildern. Grausame und boshafte Gedanken gegen as Objekt kommen auf, der Wunsch nach Rache, die Versuchung, es ver­ächtlich zu behandeln.
Es ist, allgemein gesprochen, bemerkenswert, wie oft und wie hartnäckig in dieser Phase bewußte oder unbewußte Rachephantasien auftreten, so als hätten sie schon lange gewartet, als hätten sie nur so lange gebraucht, um an die Oberfläche zu kommen. Es ist, als ob man grimmig sagte: Jetzt werde ich dich leiden lassen. Die LiJbe ist wieder eine Art von Qual wie am Anfang, aber sie ist keine wonnige Qual mehr. Ein Streit zwischen Liebenden ist nun nichts mehr, was vorübergeht. Er ist ein Glied in einer Kette. Er schmerzt nicht nur, er reißt immer wieder alte Wunden auf. Nachdem man geliebt hat und nicht mehr liebt, nach vielen Ehejahren ohne Sympathie hat das Bild, das Dante von den Qualen der Verdamm­ten malte, seine Schrecken verloren. Man ist überzeugt, daß man es leicht mit der Hölle aufnehmen könnte. Die Worte und das Schweigen sind wieder voller Spannung. Zuvor gingen die Liebenden ineinander auf. Jetzt sind sie zusammengekettet. Man hört in ihren Gesprächen das Ras­seln von Eisen und erkennt, daß die Kette bald nach der einen, bald nach der anderen Seite gezogen wird.

Wenn die Theorie über den Beginn der Liebe eines weiteren Beweises bedurfte, könnte er in diesen Endphasen gefunden werden, in denen die alten Emotionen zurückkehren und die früheren Tendenzen wiederer­scheinen. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied, der nicht allein durch die Entwicklung und den Verfall der Liebe bedingt ist. Bei den ersten Regungen der Liebe, als der Mensch noch vergeblich versuchte, ihr zu entkommen, waren Neid, Spannung und Groll unbewußt. Nun, wenn die Liebe endet, sind die gleichen Regungen vorhanden, aber sie erreichen in den meisten Fällen die Ebene des Bewußtseins. Man spürt und kennt sie. Zuvor war man nicht gewillt, sie wahrzunehmen, und auch jetzt zögert man, ihre volle Wirkung und Bedeutung anzuerken­nen. Aber man kann sie nicht lange verleugnen. Als eine Frau einmal gefragt wurde, ob sie eine andere kenne, antwortete sie: »Ja, vom Wegse­hen.« Auf die gleiche Weise wird man sich zuerst dieser Gefühle bewußt: indem man wegsieht.
Der Stoff der Liebe zerfällt in seine verschiedenen Bestandteile wie eine Verbindung, die bei der chemischen Analyse bestimmten Reagenzien ausgesetzt wird. Die Antigefühle werden nun bewußt den ursprüng­lichen Gefühlen gegenübergestellt. In der Liebe entdeckte man ständig neue, einnehmende Eigenschaften, und mit jeder Entdeckung nahm die Begeisterung zu. Nun entdeckt man immer neue Schwächen und Fehler, und der Abscheu wird stärker. Zuvor richtete sich das Streben darauf, eine Einheit zu werden, ein Stück. Jetzt möchte man den anderen in Stücke reißen. Die Engelsgeduld in der Liebe steht im Gegensatz zur schroffen Ungeduld, wenn sie endet. Das Leben war voller Farbe, jetzt ist es wieder grau und trostlos. Man fühlte sich bedeutend und kommt sich nun unbedeutend vor. Die persönliche Unsicherheit ist wieder da. Je größer zuerst der Erfolg war, desto verheerender ist nun die Niederlage. Die große Enttäuschung zeigt, daß die Liebe ein falscher Reichtum des Ichs war, der nun dahin ist. Sein Verschwinden läßt das Ich in Elend und Verzweiflung zurück.
Während die Liebe nachläßt, nimmt wie am Anfang die Spannung zu. Wenn es keine Spannung mehr gibt, ist die Liebe tot‘. Das letzte, was man empfindet, ist Neid. Der Liebende versteht, daß er für seine Zuneigung einen Preis zu zahlen hat, daß das Objekt eine Art Tribut zu fordern scheint. Und dann tritt in der Beziehung eine Art von Geiz in Erschei­nung. Der Mann gönnt seiner einstigen Geliebten die Zeit und die Auf­merksamkeit nicht mehr, die er ihr widmet, ja nicht einmal das Geld, das er für sie ausgibt. Er vergleicht ihre Vergnügungen mit seinen eigenen, fühlt sich gekränkt, wenn sie ihr Leben genießt, ärgert sich, wenn sie beliebt ist, und nimmt ihr die Freizeit übel, während er arbeiten muß. Neid ist das letzte Stadium vor der Gleichgültigkeit. Wenn man diese letzten Stadien mit den ersten vergleicht, erkennt man, daß sie einander entsprechen, nur ist alles auf den Kopf gestellt. Was unten war, ist nun oben. Aber das Ende der Liebe liegt in ihrem Anfang.
Es scheint daher so, als gäbe es eine unvermeidliche rhythmische Bewe­gung, die mit der Unzufriedenheit mit sich selbst, mit dem Erstaunen über das Objekt, mit Bewunderung, Neid und Feindseligkeit beginnt, was alles zu der starken Reaktionsbildung der Liebe führt, auf die wie­derum eine Gegenbewegung folgt, die denselben Weg in der umgekehr­ten Richtung zurückgeht. Wir müssen uns wohl oder übel diesem Zyklus unterwerfen. Wer dagegen aufbegehrt und sich weigert zu lieben, glaubt, er sei damit dem Ubel ausgewichen. Aber der Ärmste meidet das Schlimme und verfällt nur dem noch Schlimmeren. Denn letzten Endes ist es besser, geliebt und verloren, als nie geliebt zu haben.

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Die hier skizzierten Entwicklungen werden unterschiedlich empfunden und aufgenommen, je nachdem, ob man zu dem betreffenden Zeitpunkt jung oder alt ist. Wie schutzlos und verwundbar ist die Jugend in der Liebe! Wenn sie endet, glaubt der junge Mensch, der Himmel stürze ein. Ein älterer Mann sieht oft voraus, wie sie beginnen und enden wird. Während er noch schmeckt, wie süß der Wein ist, weiß er, welche Bitter­keit ihn auf dem Boden des Bechers erwartet. Als junger Mann konnte er zutiefst und auf transzendente Weise glücklich sein. Als älterer Mann erlebt er nicht mehr dieses alles verzehrende Glück in der Liebe, aber der Drang und die Sehnsucht bleiben.


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