Von Liebe und Lust
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Wir kennen viele ähnliche Reaktionsbildungen in der Psychologie und Psychopathologie. Oft wird eine starke Emotion nicht durch einen ausgeglichenen Zustand ersetzt, sondern sie schlägt in eine noch stärkere, entgegengesetzte Emotion um. Es scheint, daß während der Aktion gesammelte weitere Verstärkungen die kommende Reaktion verschärfen und daß der Gegenschlag heftiger wird als der ursprüngliche. So verwandelt sich oft eine Regung grausamer Befriedigung in Mitleid und Mitgefühl. Eine Depression wird durch eine manische Stimmung überwunden. Die Liebe selbst zeigt im Bereich der normalen Psychologie alle Anzeichen einer solchen manischen Verfassung. Sie ist in den menschlichen Emotionen die wichtigste Reaktionsbildung, die wir kennen.
»Ich liebe dich« bedeutet daher nicht »Ich hasse dich nicht«, sondern »Ich habe alle meine feindseligen Emotionen und Herrschaftsgelüste in Zärtlichkeit für dich verwandelt«. Araber und Israeli grüßen einander mit dem Wort Salaam, beziehungsweise Schalom, was soviel wie »Friede« bedeutet. Es ist heute Ausdruck der Freundschaft und des guten Willens, war aber ursprünglich die Versicherung, daß der Sprechende keine aggressiven und feindseligen Absichten hatte.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß das, was heute nur ein unbewußter Prozeß ist, einmal bewußt erlebt wurde – in den prähistorischen Zeiten, in denen durch die Jahrtausende hindurch die Liebe in der Gesellschaft entstand und Gestalt annahm. Was sich heute im Bereich der menschlichen Emotionen abspielt, war vielleicht einmal eine Aufeinanderfolge von Geschehnissen, eine Auseinandersetzung, in der Wille gegen Wille stand, ein Wettstreit, auf den Zuneigung folgte. Es gibt noch Spuren einer solchen Entwicklung. Viele tiefe und dauerhafte Freundschaften in den alten Sagen werden zwischen Rittern erst geschlossen, nachdem sie zuvor einen erbitterten Zweikampf ausgetragen haben. Noch heute klingt am Beginn so mancher Freundschaft zwischen jungen Männern ein Echo dieser früheren Bräuche nach. Und geht nicht oft auch der Liebe zwischen den Geschlechtern eine Auseinandersetzung voraus? Wollte Isolde nicht Tristan töten? Die Szene, in der sie das Schwert zieht und es, überwältigt von der dunklen Gegenwelle, fallenlassen muß, wirkt auf uns wie eine bildliche Darstellung dieser Konflikte; die in uns allen vorhanden sind, aber nicht an die Oberfläche des Bewußtseins dringen. Bevor sie Zärtlichkeit und Zuneigung Platz machen, herrschen aggressive und mörderische Wünsche und Regungen gegen das geliebte und gehaßte Objekt. Wir sind hier an der geheimsten Stelle in den unterirdischen Bereichen angekommen. Wir finden ein Skelett im Schrank des Gewölbes, und es ist die Leiche des Partners. Das unvergleichliche Wunder, das romantische Liebe vollbringt, ist, daß sie diese Leiche nicht nur wieder zum Leben erweckt, sondern zu einem verklärten, strahlenden Leben, das es zuvor nicht gegeben hatte.
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Es kann nicht unsere Aufgabe sein zu beschreiben, wie man sich fühlt, wenn man liebt. Dieses Thema müssen wir den Liebenden und den Dichtern überlassen. Wir können nicht die wunderbare Veränderung schildern, die mit dem Erscheinen der Liebe in einem Menschen vor sich geht. Wir können nur versuchen zu verstehen, warum sie zustandekam, und sie in psychologische Begriffe zu kleiden. Unsere Neugier möchte wissen, was da geschah und was aus den emotionalen Tendenzen wurde, denen wir zuvor begegneten. Wie verändert der neue Zustand das, Ich? Was wurde aus der anfänglichen Unzufriedenheit mit sich selbst, aus dem Unbehagen oder der Verstimmung? Wo ist nun das Phantom des Idealichs? Wo sind der Neid und die Eifersucht geblieben, diese starken Strebungen des Ichs? Bestehen Besitzgier und Feindseligkeit unter dem neuen Regime weiter? Hat die Liebe wirklich alles besiegt, oder gibt es nicht doch noch eine Unterströmung? Wir wissen, daß eine große Reaktion all diese Emotionen hinweggefegt, daß eine Flut sie fortgeschwemmt hat. Sie sind verschwunden. Aber heißt das, daß sie nicht mehr da sind oder daß sie sich nicht mehr offen zeigen?
[…]
Nicht nur die Liebenden, alle Dinge werden durch die Leidenschaft umgeformt. Alle werden bezaubernd, weil er oder sie unter einem Zauber steht. Nicht nur wer liebt, sondern die ganze Welt liebt einen Liebenden. Seine Empfindsamkeit ist geschärft, und er hat das Gefühl, daß ihm eine neue Welt eröffnet wurde, von der er noch nichts gesehen und gehört hat. Nichts ist dann trivial und schal. Alles ist neu für ihn, und die Natur selbst trägt den einzigartigen Stempel seiner Leidenschaft. Er fühlte sich so lange als Fremder in dieser Welt, und nun fühlt er sich in ihr zu Hause. Er entdeckt sie neu. Was er hört und sieht, nimmt eine neue Bedeutung an oder gewinnt eine alte zurück, die lange verloren war. Alles scheint ihm freundlich zuzunicken und ihn zu erkennen. Alle Menschen erscheinen ihm liebenswert, weil er liebt. Die Welt entfaltet sich vor ihm. Er fühlt sich als Eingeweihter und empfindet überströmende Zuneigung zu allem, was lebt.
[…]
Zeit und Ort gewinnen eine neue Bedeutung, so als borgten sie diese vom Liebesobjekt und von ihm allein. Es sieht so aus, als änderten sich unsere Vorstellungen von Zeit und Ort mit der neuen Ich-Einstellung. Der Zeitsinn wird von der An- oder Abwesenheit des Objekts beherrscht.
Wir sagten schon, daß das Ichideal in dem geliebten Menschen erfüllt wird. Aber der Drang zur Selbsterfüllung ist nicht tot, er ist nur abgestumpft. Die Unzufriedenheit, die Ängstlichkeit und das Mißvergnügen an sich selbst sind verschwunden. Der Liebende hat eine neue Würde gewonnen. Besitzenwollen ünd Gier wurden aufgegeben, aber ein Teil dieser Emotionen hat sein Ziel auf einem Umweg erreicht. Die Liebe selbst ist eine Mischung von Zärtlichkeit und Beherrschung, von Hingabe an das Objekt und Besitzergreifen.
Was wird aus Neid und Eifersucht? Als in der emotionalen Reaktionsbewegung die Flut einsetzte, schwemmte sie diese Regungen in einer Woge der Zärtlichkeit hinweg. Sie fallen ebensosehr durch ihre Abwesenheit auf wie die entgegengesetzten Neigungen durch ihre Anwesenheit und Vorherrschaft. Das letzte Überbleibsel des Besitzsinnes drückt sich manchmal in dem Unwillen aus, die Gesellschaft des Liebesobjekts mit anderen zu teilen. Der tiefe, starke Zwang des Neides machte dem Wunsch Platz zu geben und sich der Gaben und Leistungen des Partners, des zweiten und besseren Ichs, zu erfreuen. Man kann nicht auf sich selbst neidisch sein. Wenn man zuvor dem anderen die Privilegien oder Vorzüge mißgönnte, freut man sich nun an seiner Freude. Das Objekt hat einen zuvor erregt, nun macht es einen froh. Zuvor war man schweigsam, nun ist man gesprächig. Nun ist man nicht nur an ihrem (oder seinem) Wesen interessiert, sondern an ihrem (seinem) Wohlbefinden. Anstatt eifersüchtig auf die überlegenen Eigenschaften des anderen zu sein, ist man stolz auf sie, als wären es die eigenen. Man empfindet sie als die eigenen.
Man hört oft, die Vollkommenheit der Liebe liege darin, daß sie so »selbstlos« sei. Darüber läßt sich streiten, aber die Frage sollte nicht dialektisch diskutiert werden, sondern aufgrund psychologischer Untersuchungen. Der Prüfstein der Liebe ist nicht die völlige Anwesenheit von Feindseligkeit und Grausamkeit, sondern von Neid und Gier. Es ist kein entscheidendes Kriterium, wenn man über das Leiden eines Menschen, der einem nahesteht, bekümmert ist. Es gibt auch Kummer und Schmerz im Mitleid, und Mitleid ist nicht Liebe. Wir können diese Emotionen für Menschen aufbringen, die uns nichts bedeuten. Meiner Meinung nach ist die Liebe auf ihrer höchsten und leidenschaftlichsten Ebene ganz und gar selbstsüchtig, solange man den anderen als einen Teil seiner selbst empfindet. Ich fühle nicht altruistisch, wenn ich mich über die Freude eines geliebten Menschen freue. Das ist dieselbe Freude, die ich empfinde, wenn ich mir vorstelle, daß ich jemandem, der mir lieb ist, eine Freude mache. Werde ich daran gehindert, meiner Partnerin Freude zu geben, so ist es, als würde die Freude mir vorenthalten. Es stimmt nicht, daß wir stellvertretend Freude empfinden. Wir genießen sie direkt selbst, aber dieses Selbst ist ein anderes geworden; es hat den anderen Menschen in sich aufgenommen.
Während unser primitiver Wunsch darauf gerichtet ist, zu nehmen, was ein anderer hat und was wir begehren, kennt die leidenschaftliche Liebe nur den Wunsch zu geben und zu geben. Ein unstillbarer Durst danach bringt das Wunder zustande, daß Geben seliger ist denn Nehmen. Die Sorge um das Glück_des anderen ist unser Glück geworden. Wer könnte mehr verlangen?
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Bildquellen
- Theodor Reik: gemeinfrei