Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Wer haßt, ist wütend, weil er nicht nehmen kann, weil er dem anderen nicht entreißen kann, was er haben möchte. Wer liebt, ist dankbar, wenn er geben darf. Wir sind hier bei dem eigentlichen Kriterium tiefer Liebe angekommen. Ich überlasse einem anderen Menschen nicht nur etwas, was ich selbst haben möchte, sondern es macht mir mehr Freude, daß er (oder sie) es besitzt, als wenn ich es selbst hätte. Der negative Beweis ist leicht erbracht. Wenn mir etwas ohne sie weniger Freude macht, so kommt das daher, daß sie und ich es nicht gleichzeitig haben. Mein Ver­gnügen wird durch das Bedauern darüber gemindert, daß sie nicht da ist, um mit mir dieselbe Musik, dasselbe Schauspiel zu genießen. Es wäre nicht korrekt zu sagen, daß ich das Vergnügen mit der Geliebten teilen möchte, denn das würde voraussetzen, daß jeder von uns einen Teil da­von besitzt, was eine Trennung und Aufteilung bedeutet. Ich teile die Freude nicht mit ihr, sondern ich empfinde ihre Freude als meine eigene.
Die Psychologie der Liebe macht sogar die seltsame Tatsache möglich, daß ich mich an etwas, was mich sonst gleichgültig ließe, erfreue, weil sich das geliebte Wesen daran erfreut. Der Unterschied ist in diesen Fäl­len leicht zu spüren. Sie gehen mit Ihren Kindern in ein Kasperltheater, das kindisch oder dumm ist, aber das wird Ihnen gar nicht bewußt. Es gefällt Ihnen, weil es den Kindern gefällt. Sie hören sie über die Witze lachen und, empfinden Zärtlichkeit für sie.
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Bewußter Neid scheint das Gefühl zu sein, das mit Liebe oder tiefer Zuneigung völlig unvereinbar ist, was meiner Meinung nach höchst be­deutsam für deren Natur und Ursprung ist. Hier hat die Gegenbewegung oder Reaktion ihren Gipfel in einer Art von Umkehr der ursprünglichen Tendenzen erreicht, die abgelehnt wurden. Der Liebende ist dankbar dafür, daß er geben darf. Er dankt der Geliebten für die Annahme seiner Gaben. Geben bedeutet zugleich nehmen und geben. Daher ist auch der Gedanke des Opfers dem Geist der innigsten Liebe fremd. Ein Opfer bringen bedeutet, einem anderen etwas geben, obwohl man es selbst schätzt. Die reinste Liebe schätzt etwas nur insofern, als es zum Besitz des geliebten Menschen werden kann. Die Figur des sich aufopfernden oder in den Hintergrund tretenden Liebenden ist daher ein Widerspruch in sich selbst, wenn wir die höchsten Maßstäbe an die Liebe anlegen. Eine Tat, die als Opfer empfunden wird, bedeutet nicht wahre Liebe. Wenn der Liebende in dem, was er für die Geliebte tut, ein Opfer und ein Ver­dienst sieht, ist das Gold schon mit weniger edlen Metallen verfälscht. Aber eine solche Legierung ist vielleicht für den täglichen Gebrauch ebenso nötig und unvermeidlich wie für Goldschmuck in Form von Rin­gen oder Armbändern.
Die Feindseligkeit ging in Zärtlichkeit über, aber ein Teil bleibt unver­sehrt erhalten. Dinge wie Streit unter Liebenden oder der rasche Über­gang von Zärtlichkeit zu Heftigkeit gehören in diesen Bereich. Nicht das Fehlen von Feindseligkeit, sondern die Abwesenheit von Neid entschei­det, wie tief man liebt.
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Man sagt, daß man die Qualität eines Puddings nicht beim Essen er­kennt, sondern erst einige Stunden später. Die Zeit wird zeigen, ob es Liebe oder nur eine vorübergehende Verliebtheit war. Die Zeit wird aber auch zeigen, was wahre Liebe ist. Und warum sollte sich die Liebe nicht ändern in einer Welt, in der sich alles ändert und in der Leben ohne Ver­änderung unmöglich ist? Die Idee der Dauer, der Unveränderlichkeit des Charakters ist auch im Bereich der Liebe reine Phantasie. Bei der Beur­teilung dieses Gefühls, das eine der Hauptquellen menschlichen Glücks ist, sollte man seine Macht und seine Grenzen erkennen. Dabei darf man – aber seinen Wert nicht von seiner Dauer abhängig machen. Die Zeit, die es dauert, ist nicht sein Kriterium.
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Im Gegensatz zu anderen Psychologen ging ich bei meinen Untersu­chungen nicht vom Wesen der Liebe aus, sondern von dem, was vor ihr kommt. Ich hoffte, ihr Wesen transparent zu machen, indem ich be­schrieb, woher sie stammt. Bei meiner Schilderung der vorausgehenden Phasen zeigte ich den Boden, in dem ihr Same aufging, das stille Leben des aufwärts drängenden Sprosses, den Kampf, gegen den Widerstand der dunklen Erde ans Licht zu gelangen, und das Knospen und Erblühen der Liebe. Im Gegensatz zum Blühen muß man das Welken sehen. Die Art, wie sie welkt, sagt uns ebensoviel über diese kostbare Blume, wie wir aus dem Studium ihrer frühesten Phasen erfuhren. Was der Liebe widerspricht, führt zu ihrem Verfall und wirft ein Licht auf ihren Ur­sprung. Die Art, wie sie welkt und schrumpft, zeigt in umgekehrter Rei­henfolge, wie sie begann und ihre Blüte erreichte. Ihr Ende liegt in ihrem Anfang.
Im Rahmen dieser Auffassung erschien die Liebe als eine große emotio­nale Reaktionsbildung. Die Zuneigung erreichte ihr Ziel nach einem hef­tigen inneren Kampf, aus dem sie über einen mächtigen Gegner trium­phierend hervorging. Es gab ein regelrechtes Handgemenge, bei dem eine Zeitlang Freund und Feind schwer auseinanderzuhalten waren. Der Gegner wurde geschlagen, aber er kapitulierte nie wirklich. Es wäre tri­vial zu sagen, daß Liebe kein statischer Zustand ist, aber es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, daß die Liebe die Vorherrschaft gegen einen hartnäckigen Widerstand gewann und immer noch gegen plötzliche An­griffe ihres alten Feindes verteidigt werden muß. Wenn die Liebe stirbt, erliegt sie der zunehmenden Stärke dieser Augriffe von innen her. Der Liebende geht denselben Weg hinunter, den er heraufkam. Das Ende kann ein langer, trauriger Prozeß des Niedergangs und des Zerfalls sein: Es kann relativ schmerzlos sein oder Kummer und Qualen mit sich brin­gen. Es ist manchmal ein ebensolcher Kampf wie der anfängliche, aus dem die Liebe siegreich hervorging, ein Kampf, bei dem der ganze Mensch einen großen inneren Aufruhr erlebt und außer Fassung gerät. Es ist grausam gegenüber dem anderen, wenn der Prozeß der Loslösung mitleidlos vollzogen, und manchmal noch grausamer, wenn er voll Mit­leid geplant wird. Die alten Bakterien sind wieder virulent geworden. Sie befallen das Material der Liebe, das sie zersetzen und zerstören.
Wir haben das Bild einer rückläufigen Entwicklung vor uns und finden die Bestätigung eines psychologischen Gesetzes, das ich so formuliere: Alle emotionalen Zustände neigen dazu, auf dem Weg ihrer Entwicklung zu ihrem Ursprung zurückzukehren. Der Beobachter kann erkennen, daß die Rückwärtsbewegung dieselben Phasen durchläuft, die er zuvor in der anderen Richtung gesehen hat. Manchmal scheint es so, als würde die eine oder andere Etappe übersprungen, aber dieser falsche Eindruck entsteht dadurch, daß der ganze Prozeß, der eine, bemerkenswerte Ge­schwindigkeit hat, unbewußt verläuft.
Die meisten Menschen neigen dazu zu denken, daß der Liebende eine Enttäuschung oder Ernüchterung in bezug auf das Objekt erlebt und plötzlich entdeckt, daß er und sie nicht gut zusammenpassen. Er wurde sozusagen rasch reich und ist nun mit einemmal verarmt. Aber selbst wenn es zuträfe, daß das Liebesobjekt an den veränderten Gefühlen schuld ist, kann dies nicht der einzige Faktor sein. Das wäre eine zu grobe Vereinfachung des Sachverhalts. In vielen Fällen ändert sich das Liebesobjekt nicht wesentlich, aber die Augen, die es betrachten, sehen neue, unangenehme Züge, oder sie sehen die alten nicht mehr, die rei­zend und einnehmend waren. Manchmal läßt sich beweisen, daß diesel­ben Eigenschaften, die einmal als anziehend empfunden wurden, nun widerwärtig, ja geradezu abstoßend wirken. Das Objekt braucht sich dabei nicht wirklich verändert zu haben. Sein Bild hat sich verändert. Was hat den Zauber gebrochen?
Dieses Bild war einmal so stark, daß wir entweder blind für die Fehler des anderen waren oder sie als beinahe unerheblich betrachteten. Außerdem sahen wir so viele überragende Eigenschaften, daß sie die kleinen Fehler und Schwächen bei weitem aufwogen. Der Liebende war zuvor nicht kritisch. Er wollte das Objekt nicht ummodeln, selbst wenn er seine Schwächen sah, denn die Liebe in ihrer Blüte wünscht an dem geliebten Menschen nichts zu ändern. Er ignorierte die kleinen Unvollkommen­heiten oder betrachtete sie als nebensächlich. Mit einem Idealbild vor Augen schmückte er seine Geliebte mit lauter guten Eigenschaften aus – und dann hat er unversehens ein ganz anderes Bild vor sich. Die Ent­wicklung geht rasch, beinahe unmerklich, oder in großen Sprüngen vor sich. Nun nimmt er an jeder Kleinigkeit Anstoß und rügt jeden kleinen Fehler. Ist er vom Objekt enttäuscht, das sich als Mensch und nicht als Gottheit entpuppt? Gewiß, aber das ist nicht alles. Er wird auf den Bo­den der Wirklichkeit zurückgebracht. Aber was geschieht mit dem Bild, dem idealen, besseren Ich? Es-gibt- zwei Möglichkeiten, zwischen denen unterschieden werden muß. Die erste ist die Trennung zwischen dem Bild und der tatsächlichen Persönlichkeit des geliebten Menschen. Die zweite ist der Ersatz des einen Bildes durch ein anderes Bild.
In den frühesten Phasen am Beginn der Liebe mußte die Vorstellung vom wirklichen Objekt gegen das Bild ankämpfen, das schon vorhanden war, bevor der geliebte Mensch erschien. Die Folge davon war, daß das Bild des wirklichen Menschen durch die Phantasie verändert und in Überein­stimmung mit dem schon vorhandenen Bild umgemodelt wurde, bis sich die beiden deckten. Nun geht der umgekehrte Prozeß vor sich. Die Vor­stellung vom tatsächlichen Objekt, die Erkenntnis, was er oder sie tat­sächlich ist, beginnt sich langsam oder plötzlich vom Bild zu lösen. Sie steht nun neben der vorausgegangenen Idealisierung und wird bald einen schmerzlichen Kontrast bilden. Die Frau, wie man sie jetzt sieht, ist nicht mehr identisch mit dem Bild, das man vorher von ihr hatte. Das bedeutet aber nicht notwendigerweise, daß sie sich wirklich stark verändert hat. Solange das ursprüngliche Bild bestehen bleibt, hält sich die Liebe mit unglaublicher Hartnäckigkeit. Sie gibt ihre innere Position nicht leicht auf. Sie verteidigt sie zäh gegen neue Empfindungen und oft sogar gegen die Vernunft. Der Liebende denkt dann an einen Menschen und spricht mit einem Menschen, der gar nicht mehr da ist. Aber wenn die Trennung der Vorstellung von der Person von ihrem idealisierten Bild endgültig vollzogen ist, gibt es auch keine Liebe mehr.
Der zweite Fall liegt ganz anders, obwohl seine emotionalen Wirkungen ähnlich sind. Er hat mehr mit einer Änderung des Ichs des Liebenden zu tun. Das plötzliche oder langsame Ende einer Zuneigung ist immer das Scheitern einer Mission. Das Ich zog aus, um die Forderungen seines Idealichs zu erfüllen, und alle seine Bemühungen waren auf dieses Ziel gerichtet. Es fand es in der geliebten Person. Sie personifizierte einstwei­len das Ideal. Dieses Ideal, oder vielmehr sein Bild, ist jedoch etwas Zer­brechliches. Psychoanalytiker betonen gern, daß das Ideal unerreichbar ist, weil es die Möglichkeiten übersteigt, die einem Sterblichen gegeben sind. Ist es so hoch gesteckt, daß kein Individuum es erreichen kann? So ist es. Es ist nicht mehr menschlich, sondern übermenschlich. Was die Analyse nicht aufzeigen konnte, ist eine andere Seite des Ichideals, eine innere Schwierigkeit, die seine volle Verwirklichung unmöglich macht. Und diese Eigenschaft ist es, die, auf das Objekt übertragen, unvermeid­lich zu einer teilweisen oder vollständigen Enttäuschung führt. Das Ideal ist eine unbeständige Mischung aus widersprüchlichen Zügen. Und die­ser innere Widerspruch tritt zutage, wenn die Liebe nachläßt.
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