Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Ich habe versucht, auf eine allgemeine Weise die emotionale Situation des Menschen zu beschreiben, der ein Liebender sein wird, bevor er es tat­sächlich ist. Wir haben gesehen, daß eine Stimmung der Unzufriedenheit, der Unvollständigkeit vorhanden ist, eine Art Sehnsucht oder Einsam­keit, ein Gefühl des Mangels. In den meisten Fällen ist diese Verfassung der Ruhelosigkeit unbewußt, aber manchmal überschreitet sie die Bewußt­seinsschwelle in Form eines Unbehagens oder einer ständigen Unzufrie­denheit oder eines Bewußtseins, erregt zu sein, ohne zu wissen, warum. Man braucht nur ein paar Zentimeter tiefer zu graben, um die Ursache dieser Störung zu finden. Soweit ich es beurteilen kann, kommt sie aus einer einzigen Quelle; aus einer einzigen, weil diese all die verschiedenen Fälle erklärt: Es ist das Unvermögen, den Forderungen zu entsprechen, die wir an uns selbst stellen. Was für Gründe wir auch immer uns selbst oder anderen nennen, es ist dieses Gefühl unserer persönlichen Unzuläng­lichkeit oder Untüchtigkeit, das den Boden vorbereitet.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß wir nur selten mit uns, mit unseren körperlichen und geistigen Qualitäten, mit unseren Leistun­gen und unserer Stellung im Leben zufrieden sind. Neben dem Men­schen, der wir wirklich sind, haben wir im Geiste das Bild des Menschen, der wir sein möchten. Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir auch mit schonungsloser Klarheit, wie weit wir hinter diesem Bild zurückblei­ben. Wir nennen dieses Bild das Ichideal. Dieser Ausdruck ist vielleicht passender als der von Freud verwendete Begriff Überich. Ichideal ist we­niger abstrakt als Überich, wenn auch beide Wörter zwar nicht diesel­ben, aber doch ähnliche Nebenbedeutungen haben. Ich bin auch der Meinung, daß der Begriff Ichideal nicht so leicht mißbraucht werden kann wie der andere.
Wir behandeln dieses Bild unseres idealisierten Ichs nicht immer gleich. Manchmal lehnen wir uns sogar dagegen auf. Aber die meiste Zeit, vor allem in der Jugend, betrachten wir es viele Stunden lang bewundernd und liebevoll, oder wir hüten es als einen sehr kostbaren, geheimen Schatz. Andererseits scheint das Bild uns zu betrachten, mit kalten und oft mißbilligenden Blicken. Nur selten bemerken wir so etwas wie Be­friedigung und Anerkennung in seiner Einstellung uns gegenüber. Wir versuchen, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und uns zu entdecken, wer­den aber beinahe immer enttäuscht. Bisweilen machen wir uns vor, daß wir dem Bild gleichen, aber zugleich wissen wir, daß unsere Persönlichkeit der Gestalt, die wir geschaffen haben, nicht entspricht. Dieses fiktive Ich ist nicht das, was wir sind, sondern was wir sein möchten. Jeder von uns hat ein solches Bild entworfen. Es sollte ein Selbstporträt werden, aber es wurde nicht wirklichkeitsgetreu ausgeführt. Wir blick­ten in den Spiegel, während wir daran arbeiteten, und malten nicht so sehr, was wir sahen, sondern was wir gern in uns gesehen hätten. Tat­sächlich mißfiel uns sogar, was wir wirklich sahen, und so malten wir ein schmeichelndes Bild. Es ist nicht nur selbstgemacht, sondern auch nur für den eigenen Gebrauch bestimmt. Unseren Freunden mögen wir es nicht zeigen. Wir halten es geheim. Wir schämen uns, weil es unserem wahren Gesicht so wenig ähnelt.
Das Ichbild ist eine psychische Errungenschaft unserer späten Kindheit, ein Ergebnis unserer zunehmenden Erkenntnis, daß wir nicht sind, was wir gern wären. Selbstverständlich ist diese Einstellung uns selbst gegen­über konditioniert durch die Einstellungen uns gegenüber, die wir an anderen wahrnehmen. Wir lernen früh, uns mit den kritischen Augen zu sehen, mit denen uns Erwachsene betrachten. Kinder spüren früh genug den Gegensatz zwischen dem, was sie tun, und dem, was sie tun sollten. Das Kind möchte sich anpassen, die Forderungen der Mutter erfüllen, aber diese Bereitschaft steht in einem verzweifelten Widerspruch zu sei­nen kraftvollen Impulsen und Wünschen.
Später kommen natürlich Zeiten, in denen wir unser Ichideal aus den Augen verlieren, ja sogar Zeiten, in denen wir uns gegen es auflehnen und es über Bord werfen möchten. Doch.das gelingt mur selten. Es begleitet uns während des größten Teils unseres Lebens und ermahnt uns, seine Ziele zu erreichen – Ziele, die erst allmählich aufgegeben werden, wenn das Alter naht. Wir erkennen dann schließlich, daß seine Ziele vielleicht doch zu hoch gesteckt waren, daß uns nicht mehr genug Zeit bleibt, um alle Schulden zu begleichen, und wir resignieren. Die Persönlichkeit je­des Individuums wird bestimmt von seinen tatsächlichen Eigenschaften, seinem Ichideal und seiner Einstellung zur Diskrepanz zwischen den bei­den. Wenn man alle Ichideale der Menschen sammeln könnte, würde man wissen, was die Menschheit gern sein möchte. Man hätte eine voll­ständige »Ideologie« des Menschen. Könnte man in einer großen Schau alle Anstrengungen der Menschenrasse beobachten, das Ichideal zu er­reichen, das so nah ist und doch so fern, so würde man den ewigen Kampf um Anerkennung und Erfüllung, die Siege und die Niederlagen der Sterblichen überblicken.
Keine Phantasie ist nur phantastisch. Kein Vorstellungsvermögen kann Bilder aus dem Leeren erzeugen. Ein Kind der Phantasie hat Eltern in der Wirklichkeit. Ein Phantasiewesen wie die Sphinx besteht aus dem Kör­per einer Löwin oder eines Löwen und dem Kopf eines Mannes. Die phantasievollsten Bilder der griechischen und indischen Mythologie sind aus verschiedenen Stücken des wirklichen Lebens zusammengesetzt. Dieses Bild-Ich, das Ichideal, hat ebenso seine Vorbilder in der Wirklich­keit. Wir sehen die Beispiele unserer Eltern und Lehrer, der repräsentati­ven Männer und Frauen, die wir später bewundern. Aber wichtiger als sie sind in diesen entscheidenden Jahren, in denen das Ichideal geformt wird, die Vorbilder, die man uns vor Augen hält: die Vorzüge und Tugen­den anderer Kinder, der Geschwister, der Spielkameraden und Freunde, der Helden in Büchern oder Filmen. Wir betrachten sie mit widerwilliger Bewunderung und mit Neid, denn so hohen Maßstäben konnten wir nie gerecht werden. Im Vergleich mit ihnen werden wir uns unserer Unzu­länglichkeiten schmerzlich bewußt. Später treten andere Gestalten an ihre Stelle und werden zu Beispielen für Leistungen, die wir vollbringen, für gute Eigenschaften, die wir besitzen möchten.
Ich nenne diese der Wirklichkeit entnommenen Vorbilder Ichmodelle, weil sie einen starken Einfluß auf unsere jugendliche Persönlichkeit aus­üben. Die Eindrücke, die das Ich, das zu schwach ist, sich so mächtigen Einflüssen zu widersetzen, unbewußt von ihnen bewahrt, liefern das Material für das Ichideal, das wir in uns aufbauen. Alle diese Bilder wer­den unsterblich gemacht in der einen riesenhaften Gestalt, die wir vereh­ren. Einige der Ichmodelle werden ungeachtet der späteren Entwicklung unbewußt unversehrt erhalten wie alte Bauwerke, die in demselben Bo­den freigelegt werden, auf dem neue Häuser errichtet wurden. Sie haben tatsächlich einen unauslöschlichen Charakter. Was wir in der späten Kindheit und in der Adoleszenz bewunderten und erstrebten, bleibt für unser ganzes Leben wichtig.
Die Persönlichkeiten, die den Kern dieser Ichmodelle bilden, leben, während das Ichmodell selbst ein seltsames Produkt aus Wirklichkeit und Phantasie, Tatsachen und Erdichtung ist. Die Eigenschaften leben­der Menschen erscheinen darin stark übertrieben, ihre negativen Seiten werden ignoriert oder vernachlässigt, ihre Leistungen überschätzt. Man sieht hier gleichsam den Beginn der Idealisierung, die wir später mit einem Liebesobjekt vornehmen. Die Ichmodelle, diese Zwischenformen von Wahrheit und Tagträumen, können mit den Helden und Heldinnen der Erzählungen und Dramen verglichen werden, bei denen die Wirk­lichkeiten und Möglichkeiten lebender Vorbilder miteinander ver­schmelzen. Das heranwachsende Mädchen stellt sich vor, daß es sehr schön, anmutig und gütig, der junge, daß er stark, tapfer und heldenmü­tig sein wird – so wie die erwählten Vorbilder. Die Gestalten in diesen Tagträumen sind gewiß nicht identisch mit wirklichen fremden Perso­nen, aber sie sind auch nicht identisch mit dem Träumer (der Träumerin), so wie er (oder sie) ist. Sie sind sein oder ihr Wunsch-Ich.
Die von den Psychoanalytikern allgemein akzeptierte Narzißmus-Theo­rie behauptet, daß jeder ursprünglich in sich selbst verliebt sei. Damit wäre die Schaffung eines Ichmodells eine psychologische Unmöglichkeit. Es spiegelt den Menschen ja nicht, wie er ist, sondern wie er sein möchte. Diese Phantasie entspringt aber nicht einer überströmenden Selbstliebe, sondern einer Unzufriedenheit mit sich selbst, und sie stellt einen Versuch dar, dieses unbehagliche Gefühl mit den Mitteln zu besänftigen, welche die Vorstellungskraft bietet.
Das Ichmodell ist eine Erweiterung des Tagträumers. Es ist die Gestalt, die er sich wünscht, der Vorläufer des Ichideals. Die Grenzen zwischen diesen beiden Darstellungen sind zunächst fließend. Das Ichmodell eines Jungen kann ein Baseball-Champion sein, das eines Mädchens ein Filmstar. Der Junge wird zum Baseballfanatiker, das Mädchen schwärmt für die Schau­spielerin. Statt des Filmstars kann es auch eine Lehrerin oder ein älteres Mädchen sein. Hier sind die Wurzeln der kindlichen Liebe, die vor der Jugendliebe kommt. Die Fortsetzung des Ichmodells, das aus lebenden Menschen geformt wird, ist das Ichideal, das über die Wirklichkeit erho­ben wird und mehr oder weniger vom wirklichen Leben abweicht. Später gibt es zahllose Übergänge von einem Typ zum anderen.
Das folgende ist ein repräsentatives Beispiel für die Entstehung eines Ich­modells in der frühen Kindheit. In der Analyse erinnerte sich ein Mann, daß er vom Alter von sechs Jahren an einen etwas älteren Vetter, der eine Kadettenschule besuchte, als Vorbild hatte. Seine Mutter und seine Tante rühmten den abwesenden Vetter, Louis, als Verkörperung aller Tugenden und guten Manieren. Er wurde als ruhiger Junge geschildert, der seinen Eltern und Vorgesetzten stets gehorchte und deren volle Billigung fand. Der Jüngere hörte diese begeisterten Berichte und begann seine Tagträume um den bewunderten Vetter zu spinnen. Er war kleiner als Louis, schüch­tern und zart gebaut, während sein Ichmodell kräftig und selbstsicher war Er wurde oft getadelt, während man Louis mit vielen Worten lobte.


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