Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Diese Glorifizierung des Vetters ließ ihn als ein Wesen erscheinen, dessen hervorragende Eigenschaften und Leistungen in und außerhalb der Schule unerreichbar waren. Die Tagträume entwickelten sich in einer seltsamen Richtung. Der Jüngere verbrachte viel Zeit damit, sich vorzustellen, was Louis tat, was für Dinge er zu jeder Stunde des Tages vollbrachte. In dem Wunsch, die Beschäftigungen des unbekannten Freundes zu beobachten, begann der kleine Junge, sich einen anderen Jungen auszudenken, den er William nannte. Er machte William zu Louis‘ Freund, zwar jünger als dieser und mit ihm nicht zu vergleichen, aber doch seiner Freundschaft würdig. William besuchte in der Vorstellung des jungen eine ähnliche militärische Erziehungsanstalt und suchte manchmal Louis auf. Er war im Dienst, in der Schule und beim Spiel mit ihm zusammen. Nach und nach schien William mit Louis zu wetteifern, aber er tat es auf bescheidene Weise und war zuletzt immer der Unterlegene. Dieser eigentümliche Tag­traum änderte sich mit den Jahren nur wenig. Später dauerten Williams Besuche bei Louis länger, William wurde mit größeren Gaben ausgestat­tet und nahm an Bedeutung zu. Er reichte sozusagen näher an Louis heran, und allmählich begann er, sich dem älteren jungen gegenüber zu behaupten.
Man kann in diesem Bericht erkennen, wie aus dem Ichmodell ein Ich­ideal wird, wie sich ein Beispiel, das man dem bewundernden jungen ständig vor Augen hält, in ein aus der Ferne verehrtes Liebesobjekt ver­wandelt. Louis, ein Junge aus Fleisch und Blut, wird beinahe ein »Super­junge«. Die Erfindung der Figur Williams, der einen auf eine höhere Ebene transponierten Doppelgänger des Tagträumers darstellt, kenn­zeichnet den Wunsch, dem verehrten Objekt nahe zu sein. Der junge stellt sich mit seinem geringen Selbstvertrauen nicht vor, daß er selbst dieses höhere Wesen besuchen könnte; er ist zu schüchtern, um das auch nur in der Phantasie zu versuchen. Er denkt sich daher gleichsam einen besseren Stellvertreter aus, ein verbessertes Ich. In dieser neuen Gestalt wagt er, sich als Freund und Kamerad des verehrten Louis zu sehen. William wird dann immer bedeutender, er bekommt sogar einen Platz in der Nähe des Helden des Tagträumers zugewiesen. Es ist klar, daß die Liebe zu Louis ihren Gipfel überschritten hat.
Wir haben hier die Entwicklung von der Bewunderung eines lebenden Objekts bis zu seiner Einsetzung als Ichmodell verfolgt. Louis blieb lange ein Liebesobjekt, das aus der Ferne angebetet wurde wie ein Stern und ebenso unerreichbar war. Der Trend zurück zum Leben wird schon durch die Erfindung Williams angedeutet, der einem durchschnittlichen Jungen viel näher kommt als der makellose Louis. Dieser veränderte »Zwischencharakter« enthüllt auch einige der Tendenzen, die sich hinter der Verehrung des Ideals verbergen – ein konkurrierender Ehrgeiz, ein Hang zur Nacheiferung. William, das »Double«, wird in den späteren Phasen der Phantasievorstellungen mehr und mehr zu einem Rivalen von Louis. Wenn man die hier skizzierte Entwicklung umkehrt, lassen sich einige wichtige Lücken ausfüllen. Es muß in der anfänglichen Bewunde­rung ein gewisser Groll enthalten gewesen sein, eine Spur von Neid oder Eifbrsucht, bevor Louis idealisiert wurde. Einige Jahre später lernte der Tagträumer seinen Vetter tatsächlich ken­nen. Die beiden jungen spielten zusammen, und Louis, der nicht nur älter, sondern auch klüger war als der andere, versäumte keine Gelegen­heit, seinen Bewunderer zu übertrumpfen. Eine gewisse Kälte machte sich in ihrer Beziehung bemerkbar. Es gab Streit. Die Zuneigung war verschwunden. Louis wurde sogar zu einem Objekt der Feindseligkeit. Fälle wie dieser sind psychologisch gesehen in mehr als einer Hinsicht lehrreich. Sie gewähren nicht nur Einblick in die Bildung des Ichmodells und Ichideals, sondern auch in die Entstehung der Liebe.

Warum beschäftige ich mich so lange mit der Bildung des Ichideals? Weil von diesem Phantom aus zwei getrennte Linien direkt zum Kern unseres Problems führen. Die erste zeigt die Ursache der Mißstimmung oder des Unbehagens, die, wie ich schon sagte, unbewußt der Liebe vorausgehen. In allen Fällen hat dieses Unbehagen den Charakter einer Unzufrieden­heit mit sich selbst. Wir können nun sagen: Es gründet sich auf die Er­kenntnis, daß wir unserem Ichideal nicht gerecht werden und von der Erfüllung unserer Wünsche weit entfernt sind.
Die Stimmung, die sich aus dieser Enttäuschung ergibt, versetzt einen – sofern sie nicht allzu verzweifelt ist – mehr als alles andere in die Bereit­schaft, sich zu verlieben. Liebe ist ein Ersatz für einen anderen Wunsch, für das Streben nach Selbsterfüllung, für den vergeblichen Drang, das eigene Ichideal zu erreichen. Die Nichtverwirklichung dieses Strebens macht die Liebe möglich, aber sie macht die Liebe auch notwendig, denn die Spannung innerhalb des Ichs steigt. Die Erreichung des Ichideals würde einen selbstzufrieden und selbstgenügsam machen und die innere Not beseitigen. Wenn wir diese hartnäckige Stimme in uns für immer zum Schweigen bringen könnten, würden wir vielleicht ein Leben ohne Liebe, aber ein glückliches Leben führen. Das ist jedoch für kultivierte Menschen kaum möglich. Daher ist die Liebe in Wirklichkeit das Zweit­beste, eine Entschädigung.dafür, daß wir das Ichideal nicht erreichen. Aber sie ist keine Selbstliebe nach der Narzißmus-Theorie. Tatsächlich kommt sie dem Selbsthass näher. Sie ist Liebe zum Ichideal, das in der eigenen Person nie erreicht werden wird.
Die zweite Linie führt zum Übergang vom Ichideal zum geliebten Men­schen. Das Ichideal tritt von der Bühne der Phantasie ab, sobald das Liebesobjekt auftritt, so wie ein Wachtposten von einem anderen abge­löst wird. Wie wir nun wissen, war dieses Phantom-Ich nicht nur reine Phantasie. Stücke des Vorbilds wurden von lebenden Personen genom­men, die zu Ichmodellen wurden. Unter gewissen psychologischen Vor­aussetzungen kann die Entwicklung auch umgekehrt verlaufen. Das Phantom-Ich, dieses zweite Ich, kann wieder lebendig werden. Das Lie­besobjekt nimmt dann den Platz ein, den in unserer Seele das Ichideal ausfüllte. Mit anderen Worten: Lieben heißt, das Ichideal gegen ein äu­ßeres Objekt eintauschen, gegen einen Menschen, der alle Eigenschaften in sich vereint, die wir einmal selbst zu besitzen wünschten. Der unbe­wußte Prozeß, durch den das vor sich geht, ist seinem Wesen nach eine Projektion. Wie man ein Bild auf eine Leinwand oder eine reflektierende Fläche werfen (projizieren) kann, so kann man das eigene Idealbild auf eine andere Person projizieren. Dieser Prozeß erleichert den psychischen Druck, indem die Last von den eigenen Schultern abgeworfen wird. Pro­jektion bedeutet allgemein eine Erleichterung psychischer Bedrängnis, was wir in vielen, ganz verschiedenen Fällen beobachten können. Der Asket in der Wüste fühlt sich nicht mehr verantwortlich für die sexuellen Versuchungen, die ihn quälen. Eine äußere Kraft, der Teufel, der Böse ist es, der ihn mit wollüstigen Visionen heimsucht. Es handelt sich nicht mehr um einen Konflikt in seinem Inneren. Er ringt mit Satan. Das ist die wohltätige Wirkung der Projektion.
Doch es ist erstaunlich, wie selten die Menschen gewillt sind, ihre inne­ren Forderungen zu mäßigen, wie sehr sie auf Leistung bestehen. Es scheint, daß wir ein zwingendes Bedürfnis haben, die geheimen Lei­stungsansprüche zu erfüllen, die wir von der Kindheit an in uns tragen.
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