Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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So haben wir nun der unbewußten Unzufriedenheit in uns eine weitere Voraussetzung der Liebe hinzugefügt, die bei der Begegnung mit dem zukünftigen Liebesobjekt in Erscheinung tritt, nämlich die Existenz und Wirkung verdrängten Neides. Mit anderen Worten deutlicher ausge­drückt: die anfängliche Bewunderung für das Objekt schloß den Wunsch ein, dieses Objekt zu sein oder zu haben, mit ihm den Platz zu tauschen. Nicht nur die vorzüglichen Eigenschaften des anderen Menschen – ob sie tatsächlich vorhanden sind oder ob wir sie uns nur einbilden, ist dabei gleichgültig – lösen diesen Wunsch aus, sondern auch unsere Erkenntnis, daß wir selbst diese Eigenschaften nicht besitzen. In diesem Wunsch, die eigene Persönlichkeit gegen die des anderen auszutauschen, wird schon, wenn auch in einem schwachen Licht und kaum erkenntlich, ein wesent­licher Wunsch sichtbar, den man später, wenn Liebe an die Stelle des Neides getreten ist, als erfüllt empfindet: der Wunsch, mit dem ge­liebten Menschen eins zu sein, mit ihm zu einem einzigen Wesen zu ver­schmelzen.
Diese neue Auffassung von der Liebe hat weitreichende Folgen. Wenn ich sage, daß ich meine Frau liebe, muß sie eine Kombination von Eigen­schaften an sich gehabt haben, um die ich sie beneidete oder auf die ich eifersüchtig war: ihre Hübschheit, ihr entschlossenes Auftreten, ihre gu­ten Umgangsformen, ihr Charme, ihr freundliches Wesen – lauter Eigen­schaften, die mir leider fehlen. Andererseits bedeutet die Tatsache, daß meine Frau mich liebt, daß ich Gaben oder Eigenschaften besessen haben muß, um die sie mich einmal beneidete, so sonderbar und geheimnisvoll es mir auch vorkommt, daß ich solche beneidenswerten Eigenschaften haben soll. Wenn diese Auffassung richtig ist, so ist unbewußter Neid ein unvermeidlicher Vorläufer jeder Art von Liebe. Es ist leicht zu verste­hen, daß das Tier auf die Schöne neidisch war. Es ist weniger verständ­lich, muß sich aber so verhalten haben, daß auch die Schöne auf das Tier neidisch war.

Die Liebe scheint nun in ihren ersten Phasen mehr und mehr einem Eis­berg vergleichbar zu sein, von dem nur ein kleiner Teil aus dem Wasser ragt, während der größere, das Gleichgewicht haltende Teil nicht sicht­bar ist.
Es führt ein langer Weg von unbewußten Neidgefühlen und von ver­drängter Eifersucht zu Liebe und Zärtlichkeit. Alles ist in Nebel gehüllt, und wir wissen nicht, wo wir weitergehen sollen. Die Entdeckung, daß es verborgene Neidgefühle geben muß, bevor sich Liebe entwickeln kann, ist so überraschend, daß wir das Recht auf eine kleine Atempause haben.

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Soviel ich weiß, hat seit Platon kein Philosoph oder Psychoanalytiker erkannt, daß die Liebe janusköpfig ist, daß das eine ihrer Gesichter die Züge leidenschaftlicher Bewunderung trägt, während das andere das eines grünäugigen Ungeheuers ist. Wir müssen uns auf unsere eigenen Erfahrungen verlassen und sie mit Hilfe des lebendigen Materials verifi­zieren, das uns durch die unbewußten Prozesse von Männern und Frauen geboten wird.
Bevor wir tiefer in diese Bereiche vordringen, müssen wir aber die beson­deren Eigenschaften des Neides untersuchen. Diese Emotion wurde von den Psychologen lange vernachlässigt und erhielt nicht die Aufmerksam­keit, die sie aufgrund ihrer Bedeutung für die menschliche Natur ver­dient. Sie ist eine der stärksten Leidenschaften in der Kindheit. Wenn sie später im Leben nicht so offen an die Oberfläche tritt, so bedeutet das nicht, daß sie verschwunden sei, sondern nur, daß sie unterdrückt wird.
Es ist eine psychologische Tatsache, daß niemand gern zugibt, daß der Neid einer seiner Charakterzüge ist. Man würde lieber verraten, daß man feindselige, aggressive, niederträchtige oder perverse Gefühle hegt, daß man von dieser oder jener Leidenschaft besessen ist, als daß man voller Neid steckt. Man schämt sich seiner mehr als jeden anderen »Lasters«, das in gesellschaftlicher Hinsicht viel schädlicher sein kann. Es muß einen oder mehrere Gründe für diesen Widerwillen geben, eine mensch­liche Schwäche einzugestehen, an der wir alle Anteil haben. Mindestens einen dieser Gründe kann man augenblicklich erraten. Wenn wir andere Emotionen oder Leidenschaften zugeben, entblößen wir damit nicht notwendigerweise unser mangelndes Selbstvertrauen, unsere Kleinheit und Bedeutungslosigkeit, unser Gefühl der Minderwertigkeit im Ver­gleich mit anderen. Wir gestehen andere Schwächen zwar mit verschäm­ter Miene, aber sie müssen nicht als beschämend empfunden werden. Sie bedeuten nicht das Eingeständnis, daß wir uns geringer einschätzen als den Nächsten. Wer aber sagt, daß er von Neid verzehrt wird, sagt auch, daß es ihm an Kraft und Mut fehlt, daß er eine geringe Meinung von sich selbst hat, daß er sich, verglichen mit anderen, unfähig fühlt – oder diesen Anschein erweckt er jedenfalls. Wer grausame oder gemeine Gedanken gesteht, kann sich bis zu einem gewissen Grad seiner Selbstachtung bewahren, auch wenn er solche Gedanken verurteilt. Wer aber seinen Neid gesteht, gibt seinen völligen Mangel an Selbstachtung zu (oder so scheint es). Wenn man gesteht, daß man töten wollte, gesteht man einen Fehler, ein Versagen ein. Gibt man aber zu, wie neidisch man ist, so bekennt man offenbar, daß man seiner eigenen Ansicht nach ein Versa­ger ist. Das eine Geständnis ist erniedrigend, das andere macht einen klein.
Noch andere Eigenschaften sind mit dem Neid verbunden, wenn wir ihn verdrängen und uns seines Vorhandenseins nicht bewußt sind. Der Neid ist scharfsichtig, nicht blind wie die Liebe. Kein Vorteil und keine Lei­stung seines Objekts entgeht seiner Beobachtung. Nicht die geringste Fähigkeit, kein Anzeichen von Begabung, keine noch so geringfügige Verbesserung der Position bleibt unbemerkt. Und alles wird in der Phan­tasie vergrößert. Wir können nun unsere frühere Feststellung umkehren: eine gewisse Art von Bewunderung ist die Kehrseite des Neides. Mit der glühenden Bewunderung, von der wir zuvor sprachen, verhält es sich ebenso: Sie beobachtet alles und übertreibt die kleinste Begabung, die unbedeutendsten Fähigkeiten, die bescheidensten Leistungen ihres Objekts.
Wer beneidet, gibt ausdrücklich zu, daß er den anderen sehr bewundert. Wer immer das beneidete Objekt verflucht, lobt es zugleich mit seiner Beschimpfung. Und hier ist eine weitere Eigenschaft: Neid dieser hefti­gen Art kann nicht lange unverändert bleiben. Nur zwei Entwicklungen sind für bewußten Neid möglich. Entweder wird er von der betreffenden Person zurückgezogen, die dann zum Gegenstand der Gleichgültigkeit wird, oder er muß zu Haß und Feindseligkeit führen. Wenn der Neid verdrängt wurde, ist nur die zweite Entwicklung möglich, denn unser Unbewußtes kennt die Kategorie der Gleichgültigkeit nicht. Wir assoziieren in unseren Gedanken Neid mit Haß. Einen freundlichen Neid gibt es nicht.
Kann dann aber das Vorstadium jeder Art von Liebe unbewußter Haß oder unbewußte Feindseligkeit sein? So ist es. Es klingt paradox, bis man bedenkt, daß es ein unzufriedenes Ich gibt, das ein beneidetes Objekt braucht, und daß die Feindseligkeit aus diesem Neid entsteht, der vom Objekt Besitz ergreifen möchte. Not schafft Gier. Es ist eine Art von Gier, eine Begehrlichkeit, eine Neigung zum Ergreifen und Besitzen, die unbewußt der Liebe vorausgeht und in ihr stirbt. Das ist die Natur der Bakterien, die diese Krankheit verursachen, das sind die Mikroorganis­men, die man nur unter dem Mikroskop des Psychologen sehen kann. Sie waren zuvor nicht sichtbar, und ich muß sie hier zum Zweck der Unter­suchung vergrößern. Die unbewußte Feindseligkeit ist bereits ein Sym­ptom, das durch diese unsichtbaren Bazillen hervorgerufen wird, die sich unaufhörlich bewegen und am Werk sind wie die echten.


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