Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Neid der beschriebenen Art – dieses emotionale Besitzergreifen – stellt sich hier als der Mikroorganismus dar, der die Infektion verursacht, und unbewußte Feindseligkeit ist das erste Symptom. Gefühle der Aggressi­vität oder des Hasses zeigen, daß der Bazillus virulent ist und sein Werk im emotionalen System begonnen hat, in das er eingeführt wurde. Wie der Kampf zwischen dem Eindringling und dem Organismus ausgehen wird, hängt wie beim Verlauf einer Infektionskrankheit von vielen Fak­toren ab. Verfolgen wir diese Entwicklung in dem besonderen Fall, in dem die Bakterien, nachdem sie am Werk waren, emotional besiegt und absorbiert werden, so sehen wir die Liebe als wunderbares Ergebnis eines Genesungsprozesses und nicht als Krankheit.
Der Vergleich läßt sich noch weiter ausspinnen. Der Infizierte weiß ge­wöhnlich nicht, daß Bakterien in seinen Körper eingedrungen sind, und er spürt nichts von ihren ersten Wirkungen. Wir wissen, daß es für die verschiedenen Krankheiten unterschiedliche Inkubationszeiten gibt – von wenigen Tagen im Fall der Diphtherie bis zu Monaten und sogar Jahren bei Schlafkrankheit und Lepra. Zu diesen allgemeinen Unter­schieden kommen noch individuelle Abweichungen, bei denen die kör­perliche und sogar die seelische Verfassung eines Menschen eine be­trächtliche Rolle spielt. Das eine Kind bekommt die Masern nach acht Tagen, sein Spielgefährte nach vierzehn Tagen.
Wenn man nun die Liebe mit der Genesung von einer durch Neid oder Eifersucht verursachten Infektionskrankheit vergleicht, müssen wir an­nehmen, daß es vor dem Ausbruch der Krankheit eine Art Inkubations­zeit gegeben hat. Liebe auf den ersten Blick scheint dieser Annahme zu widersprechen, aber das kommt vielleicht nur daher, daß die Infektion sehr rasch erfolgte. Die Inkubationszeit zwischen der Berührung mit dem Krankheitserreger und dem Auftreten der ersten Symptome scheint sehr kurz zu sein. Aber solange wir nicht mehr über das Tempo emotio­naler Prozesse dieser Art wissen, können wir nicht sagen, warum das Sichverlieben in dem einen Fall so rasch geht und in einem anderen so lange dauert. Die emotionale Verfassung des einzelnen, bevor er sich verliebt, ist einer der entscheidenden Faktoren. Soviel steht fest.
Wir haben Haß oder Feindseligkeit mit den ersten Symptomen einer­ ansteckenden Krankheit verglichen. Symptome dieser Art sind manch­mal offen sichtbar, aber während der Inkubationszeit nicht immer als solche zu erkennen (z. B. Mattigkeit, Verstimmung, erhöhte Tempera­tur). In den meisten Fällen werden die anfänglichen Symptome kaum bemerkt. Sie werden zumeist als unerheblich abgetan. Oft sind sie auch gar nicht feststellbar. Die Feindseligkeit gegen das Objekt kann mit die­sen nicht wahrnehmbaren ersten Symptomen verglichen werden, weil diese Emotion im allgemeinen unbewußt bleibt. Aber ebenso wie bei den Infektionskrankheiten gibt es auch viele Fälle von Liebe, in denen die ersten Symptome an der Oberfläche erscheinen und nicht übersehen werden können. Manche mögen einwenden, daß solche Anzeichen von Groll oder Feindseligkeit nur Ausdruck eines besonders leidenschaftli­chen Charakters und nicht regelrechte Vorläufer der Liebe seien. Aber es verhält sich eher so, daß diese Emotion, die bei den meisten Menschen oft nicht festgestellt werden kann, bei heftigen Charakteren eben auffällt. Die Tatsache, daß die Märchen und Sprichwörter der meisten Völker darauf hinweisen, daß feindselige oder aggressive Gefühle oft die Liebe ankündigen, spricht zugunsten dieser Annahme.
Die Feindseligkeit ist die Vorläuferin jeder Liebe, aber selbstverständlich folgt ihr nicht immer Liebe.
[…]
Selbstverständlich muß sich aus Neid und Feindseligkeit nicht Liebe ent­wickeln. Es gibt andere Betätigungsfelder für diese verdrängten Emotio­nen, aber sie sind die unbewußten Voraussetzungen für eine tiefe Zunei­gung. Mit anderen Worten, wenn man nicht hassen kann, ist man auch nicht imstande zu lieben. Wenn man nicht beißen kann, kann man nicht küssen. Wenn man nicht verfluchen kann, kann man nicht segnen. Wer kein guter Hasser sein kann, wird ein schlechter Liebhaber sein.
Das Gleichgewicht zwischen diesen Kräften ist sehr heikel, der Über­gang von der einen zur andern leicht. Liebe schließt Feindseligkeit nur oberflächlich betrachtet aus. In Wirklichkeit schließt sie sie mit ein. Das Gegenteil der Liebe ist nicht Feindseligkeit, sondern Gleichgültigkeit, und der Übergang von dieser zur Liebe ist schwieriger als der von Wider­willen und Groll. Die Gefahr, sich zu verlieben, ist nicht vorüber, wenn man einen Menschen zu hassen glaubt. Sie kann vorhanden sein, wenn man in einer Frau einen Vamp oder eine Xanthippe sieht – oder wenn man einen Mann in Gedanken einen Schuft oder Schweinehund nennt Die Gefahr ist vorbei, wenn man einen Mann oder eine Frau auf die Dauer nicht anders sieht, als andere ihn oder sie sehen. Ein Mensch kann attraktiv bleiben als ein wahrer Teufel, aber nicht als bedeutungsloses Mittelmaß. Ich hörte einmal eine Frau sagen: »Wenn ich ihn nicht gerade hasse, liebe ich meinen Mann von Herzen.«
Unsere alte falsche Vorstellung von der Liebe bereitet uns viel Unglück und Kummer, solange wir jung sind. Wir nehmen uns selbst Gefühle vor Groll und Haß übel, die wir manchmal gegen geliebte Menschen hegen Wir glauben, daß eine solche Emotion nicht das Recht hat, neben unserer starken Zuneigung zu existieren, nicht einmal für die Dauer weniger Mi­nuten. Wir fürchten, daß das Erscheinen eines so unwillkommenen Ga­stes unsere Gefühle ernsthaft gefährdet. Aber manchmal auf jemanden böse zu sein oder Feindseligkeit gegen ihn zu empfinden, bedeutet kei­neswegs, daß man diesen Menschen nicht mehr liebt.
Dieser irrige Eindruck entsteht nur durch unsere falsche Vorstellung vor Zuneigung und unsere geheime Einbildung, die uns glauben macht, wir seien mehr als nur schwache Menschen. Wir haben nicht das Recht, uns für Muster an Tugend zu halten, für so edel, daß es in uns neben der Zuneigung keinen Groll und keine Feindschaft geben kann. Wir müsser nicht nur Nachsicht mit den Schwächen anderer haben, sondern auch mit unseren eigenen. Niemand von uns ist dazu ausersehen, Jesus Christus oder die Heilige Jungfrau zu sein oder zu werden. Gegenüber der eige­nen Feindseligkeit, dem eigenen Ärger so intolerant zu sein, verrät eine versteckte Arroganz. Menschen sind keine Engel und am allerwenigster Friedensengel. Feindseligkeit bleibt die stille, aber aktive Teilhaberin der Liebe. Wenn man dem Problem wirklich auf den Grund geht, stellt mar fest, daß es gar nicht so leicht ist, diejenigen, die man liebt, auch zu mögen.

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Bevor wir weitergehen, sind einige Worte der Warnung und Besinnung angebracht. Sie erscheinen mir ratsam, da wir uns dem Wendepunkt die­ser These nähern, aber sie gelten ebenso auch für das Vorausgegangene. Wenn wir von unbewußten Prozessen sprechen, laufen wir immer Ge­fahr, Eigenschaften und Eigentümlichkeiten unseres bewußten Denkens und Fühlens auf ein gänzlich anderes Gebiet zu übertragen. Wir müssen zwangsläufig Ausdrücke und Wörter gebrauchen, die aus unserem be­wußten Leben stammen, wenn wir beschreiben, was in diesem »unterir­dischen« Reich geschieht, weil uns keine anderen Wörter zur Verfügung stehen. Es bleibt jedoch ein unbefriedigender Versuch, etwas zu begrei­fen, was sich unseren Bemühungen beinahe entzieht. Die Bedeutung, die wir den Wörtern geben, ist nur annähernd richtig, so wie eine Überset­zung aus einer anderen Sprache nicht alle Nebenbedeutungen mit über­tragen kann, die die Wörter im Original haben.
Der tiefgehende Unterschied zwischen den bewußten und den unbe­wußten Prozessen, der die Übersetzung so unzulänglich macht, ist im­mer in Betracht zu ziehen. Wenn ich sage, daß zuerst ein Groll, eine Feindseligkeit gegen das Liebesobjekt vorhanden ist, so müßte ich ei­gentlich hinzufügen: Wenn wir das, was im Bereich der verdrängten Re­gungen vorgeht, in die Sprache der bewußten Emotionen übersetzen könnten, würden diese Ausdrücke der Bedeutung des Prozesses am nächsten kommen. Dieses Merkmal des nur »beinahe« Richtigen in der Interpretation rechtfertigt keine falschen oder absurden Übersetzungen. Es gibt nicht so etwas wie eine vollständige Kenntnis der Idiome des Unbewußten, und wer sich der Beherrschung dieser prähistorischen Dialekte rühmt, gleicht einem Menschen, »der in mehreren Sprachen Unsinn reden kann«.
Aber selbst mit dem Eingeständnis, daß die Beschreibung notwendiger­weise nur »beinahe« richtig ist, haben wir noch nicht alle unsere Schwä­chen zugegeben. Wir müßten außerdem noch jedesmal hinzufügen, daß die Existenz und Aktivität eines bestimmten Gedankens oder Impulses gleichzeitig das Vorhandensein und die Existenz des Entgegengesetzten im unbewußten Prozeß einschließt. Gegensätze schließen einander auf dieser Ebene des primitiven Denkens nicht aus. Es ist so, als könnte ein Wort wie »mit« zugleich auch sein Gegenteil, »ohne«, bedeuten oder als könnte »Ich liebe dich« auch »Ich hasse dich« heißen. Die besprochene unbewußte Feindseligkeit in den Vorstadien der Liebe bedeutet auch schon Anziehung und beginnende Zuneigung. Andere Eigentümlichkei­ten der unbewußten Prozesse sollten wir ebenfalls ständig im Auge be­halten: zum Beispiel die Leichtigkeit, mit der man von einem Gedanken zu einem anderen übergeht, und die Übertragung ganzer Gedanken­gänge auf ein scheinbar sehr fern liegendes Gebiet. Man beachte den leichten Übergang von dem Wunsch, wie ein anderer Mensch zu sein, zu dem Wunsch, diesen Menschen zu besitzen, sich seine Begabungen und Eigenschaften einzuverleiben.


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