Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Wenn wir unbewußte oder, besser gesagt, verdrängte Gedanken oder Impulse in die Sprache unseres täglichen Lebens übertragen, übertreiben wir ihre Intensität, weil sie nur so wahrnehmbar werden können. Damit will ich nicht sagen, daß wir ihre emotionale Wirksamkeit übertreiben, aber wir vergrößern sie. Die virulentesten Bazillen, mit denen wir die Emotionen des Neides und der Eifersucht in den Anfangsstadien der Zuneigung verglichen, sind unsichtbar und können nur durch ein Mikro­skop beobachtet werden. Bei unserer Beschreibung dessen, was unbe­wußt geschieht, bevor wir lieben, müssen wir ähnliche Vergrößerungs­gläser benutzen, um die Entwicklungen in vergrößertem Maßstab zu sehen, weil sie sonst nicht wahrnehmbar wären. Wenn wir das scharfe Glas der Analyse beiseitelegen, verblassen unbewußte Emotionen des Neides, der Eifersucht und Besitzgier zur Bedeutungslosigkeit; aber wie wir von den Bazillen her sehr wohl wissen, sind sie nach wie vor höchst wirksam. Was geschieht mit der inneren Spannung im Menschen, mit den Wellen der Feindseligkeit, die er unbewußt gegen sein Objekt empfindet? Selbstverständlich gibt es eine beinahe instinktive Reaktion, um sich von dem emotionalen Druck zu befreien. Das Ich versucht, das Bild des ge­liebten / gehaßten Menschen auszutreiben, der ein so willkommen / un­willkommener Eindringling ist und uns stört, ärgert, erregt und irritiert. Das Ich attackiert dieses Bild, es will den Usurpator verjagen, der jeden Gedanken, jede Emotion zu beherrschen und den ganzen inneren Haus­halt zu verändern droht. Wir ahnen unklar voraus, daß diese Idee oder dieses Ideal, wenn wir es nicht vertreiben, von allem Besitz ergreifen wird, was wir sind und was wir haben. Es wird unsere Seele totalitär regieren.
Man versucht, den geliebten Menschen auszuschalten, dessen Zurück­haltung nur seine Anziehungskraft erhöht hat. Das Ringen mit dem Ob­jekt ist wie der Kampf gegen einen Dämon im Dunkeln. Was dort in den Tiefen stattfindet, ist ein regelrechter Angriff, der mit viel Kraft und Mut und allen Waffen verletzten Stolzes unternommen wird. Die emotionale Unabhängigkeit des Ichs ist bedroht, und es ist bereit, seine Freiheit mit aller Energie zu verteidigen. Der Angriff dient dazu, dem Objekt seine Überlegenheit zu nehmen, sein Bild zu besudeln, all seine häßlichen Aspekte ans Licht zu bringen und es in den Schmutz zu zerren. Der Kampf tobt im Innern des Menschen, der sich seiner in den meisten Fäl­len nicht bewußt ist.
Der Eindringling läßt sich jedoch nicht leicht austreiben. Das Bild vertei­digt hartnäckig den Boden, den es schon in uns gewonnen hat. Die Vor­stellung von seinen vorzüglichen Eigenschaften und Gaben, die unsere Bewunderung und unseren Neid erregten, bleibt unerschüttert. Das Ziel des psychischen Kampfes ist die Beseitigung oder Vernichtung des Ob­jekts in uns. Es muß ausgestoßen oder einverleibt werden, sonst fürchten wir, daß‘wir,unsere Seele nicht mehr unser eigen nennen können. Der wütende Angriff auf das Objekt in uns kann den Charakter einer plötz­lichen Revolte haben oder ein harter, lange währender Kampf sein. Er kann die Form einer vollständigen Vernichtung oder eines nie endenden Zweifels am Wert des Objekts annehmen.
Wenn das eingedrungene Bild seine Stellung innerhalb des Ichs noch nicht gefestigt hat, kann der Angriff Erfolg haben. Das Bild wird über­wältigt, und Liebe kann sich nicht entwickeln. Im Augenblick fühlt das Ich eine gewisse Erleichterung, so als wäre es von einer dunklen Dro­hung befreit worden. Dann kehrt die alte Unzufriedenheit zurück, das frühere Unbehagen ist wieder da. Das Ich hat in dem Kampf auf Leben und Tod seine Unabhängigkeit bewahrt, aber das Individuum fühlt sich wieder allein und draußen in der Kälte. Die emotionale Lage ähnelt der, die sich das kleine Mädchen vorstellte, als es einen einzelnen Spatzen im Schnee umherhüpfen sah. Es rief: »Schau dir den armen kleinen Vogel an, Mutter! Er hat keinen Käfig!«
Was geschieht aber sonst, in der Mehrheit der Fälle, in denen der Prozeß nicht mit Gleichgültigkeit oder Abneigung endet, sondern zu Liebe und Zärtlichkeit führt? Das ist sehr einfach zu beschreiben. Der Angriff ist wirkungslos geblieben, die Revolte wurde niedergeschlagen und die Kräfte des Angreifers sind erheblich geschwächt worden. Der Eindring­ling wurde unter großen Verlusten zurückgeworfen. Das ist der Wende­punkt der »unterirdischen« Geschehnisse. Der zurückgeschlagene An­griff läßt das Ich nicht in derselben Lage wie vorher zurück. Er hat die Offensivkraft des Ichs geschwächt. Aber der kurze, heftige oder lange, erbitterte Kampf hat auch die Fähigkeit des Ichs, sich zu verteidigen, geschwächt. Und in diesem Augenblick beginnt der Gegenangriff.
Das ist eine kritische Stunde in der Geschichte einer Seele – und eine, in der für das Individuum und seine emotionale Entwicklung Geschichte gemacht wird. Die große Gegenoffensive schreitet rasch vorwärts. Die zurückweichenden Streitkräfte des Ichs werden verfolgt und durch den Gegenstoß vernichtend geschlagen. Lassen wir den bildhaften Vergleich: Auf das Unvermögen der feindseligen und aggressiven Tendenzen, ihr Ziel zu erreichen, folgt eine Reaktion und Überreaktion der Zärtlichkeit und Sehnsucht nach dem Objekt. Das Pendel schwingt nun weit in der entgegengesetzten Richtung aus. Die Revolte gegen den Eindringling, der Versuch, sich von den feinen Ketten zu befreien, die einen gefangen­hielten, ist fehlgeschlagen, und die Liebe hat gesiegt. Das Bild des Ob­jekts beherrscht nun, strahlender als je zuvor, das Gefühlsleben. Das dunkle, verlockende Bild, das in Herz und Sinn in den Hintergrund ge­drängt worden war, steht nun im vollen Licht. Es wird zur Besessenheit, und die Gedanken des Liebenden sind nicht nur mit ihm beschäftigt, wenn das Objekt anwesend ist, sondern ebenso und noch mehr in seiner Abwesenheit. Nichts_kann_den Liebenden mehr aufhalten, und es gibt keine Furcht und kein Zögern mehr. Eine Kraft, die stärker ist als sein bewußter Wille, treibt ihn vorwärts und läßt ihn die Nähe der geliebten Person suchen. Ihre Befangenheit macht ihn kühn, ihre Zurückhaltung fordert ihn zur Eroberung heraus. Die Welle der Rebellion, die aus ver­borgenen Quellen hervorbrach, geht unter in dem überwältigenden Sog. Die Reaktion gegen das Aufsteigen unbewußter Feindseligkeit siegt. Je­der Widerstand wird beiseitegefegt. Ein vollständiger Umschwung mit allen Anzeichen einer Läuterung findet statt, eine Erhebung mit dem Charakter einer Katalyse. Die Zuneigung, die aus einer so starken Reak­tion entsteht, wird durch den Widerhall nur noch stärker.
Die Auffassung, daß Liebe das Ergebnis einer Gegenreaktion auf das Wirken von verdrängtem Neid und verdrängter Feindseligkeit ist, ist allen geläufigen Vorstellungen der Psychologie so fern, daß es schwierig ist, sie in den präzisen Ausdrücken der Sprache der Psychologie zu for­mulieren. Nicht Zweifel oder Mangel an Mut läßt uns zögern, sondern eben der Umstand, daß diese Auffassung nie zuvor formuliert wurde. Zwei Schlüsse können wir immerhin ziehen, die meiner Ansicht nach unausweichlich sind:
1. Liebe entsteht nicht aus dem Geschlechtstrieb, sondern gehört in das Reich der Ichtriebe.
2. Liebe ist ihrer wesentlichen Natur nach eine emotionale Reaktionsbil­dung auf Neid, Besitzgier und Feindseligkeit.
Diese Charakterisierung gilt für alle Arten von Liebe, Verliebtheit und Leidenschaft, Zärtlichkeit für die Ehefrau, freundschaftliche und liebevolle Gefühle für den Nächsten. All das gründet sich auf die Überwin­dung des Neides und des Wunsches zu herrschen, der Feindseligkeit und der Eifersucht. Wir verstehen, daß der Akzent auf dem Triumph über diese unbewußten Emotionen liegen muß, auf der Intensität der Gegen­reaktion auf sie oder der Endgültigkeit des Sieges der entgegengesetzten Gefühle.
Rückblickend fragen wir uns, wie wir das so lange übersehen konnten. Was sonst könnte die Liebe sein? Man braucht nur den Charakter der Liebe und ihre am stärksten ausgeprägten Merkmale zu betrachten. Sie sind alle Ausdruck des Gegenteils von Neid, Feindseligkeit und Zerstö­rungsdrang. Echte Liebe kennt keinen Neid. Sie freut sich am Glück, an den Leistungen und den guten Eigenschaften des Liebesobjekts. Liebe ist nicht feindselig, sondern der höchste Ausdruck der Zärtlichkeit. Die Kennzeichen der Reaktion sind so deutlich und sie rücken so sehr in den Vordergrund, daß wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen, wie es anders sein könnte. Der Sieg ist so triumphal, daß es nie einen Kampf gegeben zu haben scheint. Die Herrschaft der Liebe ist so unangefochten und unanfechtbar, daß niemand glauben kann, daß sie einem Gegner abgerungen wurde.


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