Von Liebe und Lust

Von Liebe und Lust

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Das erste Liebesobjekt ist somit ein glorifiziertes Ich, das Phantom-Ich, das wir uns in unseren Tagträumen vorstellen. Das zweite ist die Verkör­perung dieses ersehnten Bildes in einem wirklichen Menschen. Das Ich­ideal wurde mit Hilfe äußerer Einflüsse aufgebaut und durch lebende Personen stimuliert. Es ist eine Rückkehr auf Umwegen zu dem alten Vorbild, wenn nun das Original des Ichideals in der äußeren Welt, im Liebesobjekt, gesucht und gefunden wird. Das neue Ideal ist, streng ge­nommen, nur die Erneuerung des alten in anderer Form.
Hier stehen wir nun vor einer neuen Schwierigkeit. Wenn wir uns versuchsweise an diese Auffassung halten, finden wir keinen Platz für die stärkste Form der Liebe: die zwischen den Geschlechtern. Man nennt den geliebten Menschen zwar das bessere ich, aber kann es sein, daß auch bei dieser Art von Liebe – der wichtigsten für die Gesellschaft und die Kultur – die Emotion ein Ersatz für den Wunsch ist, dem Ichideal zu entsprechen`? Ist auch diese Liebe nur das Zweitbeste? Ja, ich glaube, daß die hier skizzierte Auffassung auch in diesem Falle gilt. Sie wird natür­lich modifiziert und durch den starken Faktor der Sexualität kompli­zierter.
Noch eine andere Frage muß hier gestellt werden: Warum wählen wir nicht den natürlichsten Weg, wenn wir dieses innere Unbehagen verspü­ren, das von der Nichterfüllung unseres verborgenen Ichideals herrührt? Warum werden wir nicht bescheidener oder toleranter uns selbst gegen­über? Auf diese Frage werde ich später eine Antwort geben. Ich habe die Tatsache hervorgehoben, daß die geliebte Person ein Ersatz für das Ichideal ist. Zwei Menschen, die einander lieben, tauschen ihre Ichideale aus. Daß sie einander lieben, bedeutet, daß jeder sein eigenes Ideal im anderen liebt. Ohne dieses Phantom gäbe es keine Liebe auf der Welt. Wir verlieben uns, weil wir das (Ideal-)Bild nicht erreichen kön­nen, das unser besseres Ich und das Beste von uns ist. Aus dieser Auffas­sung geht hervor, daß die Liebe selbst nur auf einem gewissen kulturellen Niveau oder nachdem ein gewisses Stadium in der Persönlichkeitsent­wicklung erreicht wurde, möglich ist. Allein die Schaffung eines Ichide­als kennzeichnet schon den menschlichen Fortschritt. Wo Menschen voll und ganz mit ihrem eigenen Ich zufrieden sind, ist Liebe unmöglich. Die Übertragung des Ichideals auf einen anderen Menschen ist der cha­rakteristischste Zug der Liebe. Die Entwicklung beginnt also mit einem Streben nach Selbstvervollkommnung, das frustriert wird. Sie endet da­mit, daß wir die Vollkommenheit, die wir selbst nicht erreichen konnten, in diesem zweiten Ich finden. Das Liebesobjekt wird zum Inhaber aller Werte. Das Bild wird Fleisch in der geliebten Person. Waren wir zuvor Sklaven im harten Dienst eines Ideals, so sind wir nun einem wirklichen Menschen verfallen.
Gibt es nicht noch eine andere Veränderung, wenn wir einen Menschen an die Stelle des unerreichbaren Ichideals setzen? Dieses Ideal war ein Phantom, und das Liebesobjekt ist ein wirklicher, lebendiger Mensch. Aber ist das wirklich so? Nein. Auch das Liebesobjekt ist weitgehend ein Phantom, ein Haken, an den wir alle Selbstillusionen hängen, die zu erfüllen wir uns sehnten. Die lebendige Person ist sozusagen nur der Stoff, aus dem wir eine Phantasiefigur schaffen, wie der Bildhauer eine Statue aus dem Stein meißelt.
Während ich diese Zeilen schreibe, hat jemand im Zimmer nebenan das Radio eingeschaltet. Ich höre eine nicht unangenehme Tenorstimme
einen neuen Schlager singen: »Ich werde nie wissen, warum ich dich liebe.« Wenn der Sänger mit einer vorläufigen Antwort zufrieden wäre, könnten sie wir ihm geben. Er liebt sie so, weil sie seinem geheimen Ichideal entspricht.
[…]
3
Wir haben schließlich den Augenblick erreicht, in dem ein Mensch seinem künftigen Liebesobjekt begegnet. Um jemanden zu lieben, müssen wir ihn bewundern. Wir brauchen nicht einmal zu wissen, daß wir ihn bewun­dern. Es genügt, daß wir uns angezogen und fasziniert fühlen. Es scheint jedoch, daß Bewunderung ein notwendiges Gefühl der beginnenden Liebe ist. Ich behaupte selbstverständlich nicht, daß Bewunderung zu Liebe führen muß, sondern nur, daß sie eine absolut unerläßliche Voraus­setzung ist. Aber ist das nicht offensichtlich? Zweifellos. Warum wird es eigens erwähnt, wenn es doch auf der Hand liegt? Weil Dinge, die man für selbstverständlich erklärt, selten sorgfältig untersucht werden. Das Of­fensichtliche ist ein ausgezeichnetes Versteck für Dinge, die im Verborge­nen bleiben möchten. Und was für eine Art von Bewunderung ist das eigentlich? Sicherlich keine kühle, leidenschaftslose, unpersönliche Wert­schätzung. Sie hat einen entschieden anderen Charakter, sie kommt dem Kern der eigenen Persönlichkeit viel näher. Sie bringt eine Saite im eigenen Innern zum Klingen, rührt etwas auf, macht einen ruhelos oder sehnsüch­tig. Sie läßt gewisse dunkle Wünsche erwachen, stellt geheimnisvolle For­derungen. Sie hat etwas von einer Herausforderung an sich.
Es ist die Art von Bewunderung, die macht, daß man sich klein und minderwertig vorkommt, unwürdig im Vergleich mit dem Liebesobjekt. Gleichzeitig regt sie den Wunsch an, wie das Liebesobjekt zu sein oder von ihm Besitz zu ergreifen – entweder mit ähnlichen Eigenschaften aus­gestattet zu sein oder eine solche Persönlichkeit zu besitzen. Sie ist nicht Hochachtung oder irgendeine andere Form von Wertschätzung. Sie hat etwas Herausforderndes, sagte ich, ja sogar etwas Erschreckendes. Sie ist nicht nur erregend, sondern auch inspirierend; nicht nur inspirierend, sondern auch irritierend. Mit anderen Worten, wir bewundern auf diese Weise nur jemanden, dem wir gleichen oder den wir besitzen möchten. Das sind nicht zufällige oder sekundäre Züge dieser Bewunderung, son­dern ihre wesentlichen Merkmale.
Diese Beschreibung drückt die positive Seite der Art von Bewunderung aus, die ich meine. Wo ist die negative Seite? Sie wird sichtbar, wenn man bedenkt, daß wir die bewunderte Person sein oder ihre Eigenschaften oder persönlichen Vorzüge besitzen möchten; wenn man bedenkt, daß wir uns, verglichen mit dem Liebesobjekt, minderwertig fühlen. In alledem steckt etwas Begehrliches. Die Bewunderung hat etwas Besitzergreifendes oder Gieriges an sich und zugleich auch etwas Ablehnendes, Widerstrebendes, ja sogar Mißgünstiges. Folgt man diesem Faden bis in den Bereich der unbewußten Prozesse, so findet man dort ein Gefühl, das sonst Neid oder Eifersucht genannt wird. Mit anderen Worten, die Kehrseite oder die fal­sche Seite dieser Bewunderung für das Liebesobjekt ist Neid.
Ich möchte diesen Gegenstand ausführlicher behandeln, der der erste wichtige Teil meiner neuen Auffassung ist, um alle Mißverständnisse und Fehldeutungen zu vermeiden. Ist Neid notwendigerweise mit Bewunde­rung verbunden? Gewiß nicht. Er ist es nur bei dieser besonderen Form, die einem den Wunsch eingibt, wie das Objekt zu sein oder es zu besit­zen. Aber nur diese Art führt später zur Entwicklung der Liebe. Was bedeutet das und warum muß es so sein? Sagten wir nicht, daß der Mensch mit sich selbst unzufrieden ist, seine Unzulänglichkeiten schmerzhaft spürt, nicht sein kann, was er sein möchte, oder nicht leisten kann, was er leisten möchte? In dieser Verfassung begegnet er einer Persönlichkeit, die die Verkörperung all dessen ist, was er zu sein und zu erreichen wünscht. Sie hat so viel; oft scheint es, daß sie alles hat. Wie sollte seine Bewunderung nicht einen mißgünstigen, unfreiwil­ligen ablehnenden Beigeschmack haben? Kann sie ganz frei von Neid sein? Er wäre kein Mensch, wenn er anders fühlte. Er wäre vielmehr ein Ausstellungsstück für ein naturkundliches Museum, eine bemerkens­werte Ausnahme von der Spezies Mensch. So ist unsere Natur im Grunde beschaffen.
Dies ist die einzige Art von Bewunderung, die unsichtbar und untrennbar von Neid begleitet ist. Andere Arten sind zumindest relativ frei von dieser mächtigen unterirdischen Komponente. Respekt und Hochschätzung für diese oder jene Eigenschaft oder Begabung bei einem anderen Menschen braucht nicht mit Neid verbunden zu sein. Teilweise fehlt der Bewunde­rung oft diese Beimischung. Es ist durchaus möglich, an jemandem diesen oder jenen Vorzug zu bewundern, ohne den leidenschaftlichen Wunsch zu hegen, dieser Mensch zu sein. Ich kann, zum Beispiel, das Können eines Tennis-Champions bewundern, ohne den dringenden Wunsch zu verspü­ren, selbst einer zu sein. Andererseits kann ich den Wunsch haben, gut Tennis zu spielen, ohne er sein zu wollen. Ich bewundere ihn, aber meine Bewunderung beschränkt sich auf ein bestimmtes Gebiet. Ich wünsche mir nicht, der Tennis-Champion zu sein, und ich bin auf ihn als Persön­lichkeit nicht neidisch oder eifersüchtig. Selbst glühende Bewunderung braucht nicht unbewußten Neid zur Folge zu haben. Ich kann mich für die Sinfonien Beethovens begeistern und mir in meinen Tagträumen leiden­schaftlich wünschen, ein Künstler wie er zu sein und die fünfte oder die siebente Sinfonie komponiert zu haben. Nichtsdestoweniger möchte ich nicht Beethoven sein oder sein heftiges Temperament und sein menschen­feindliches Naturell haben. Ich würde mein Leben nicht gegen sein tragi­sches Schicksal tauschen wollen. Ich möchte nur seinen göttlichen Genius haben, nicht seine Persönlichkeit. In diesem Falle ist meine Bewunderung beschränkt, so wie es mein unbewußter Neid oder meine unbewußte Eifersucht wäre, wenn sie geweckt würde.
Die Bewunderung oder der Neid als psychologische Voraussetzung des Liebens, als unbewußte conditio sine qua non der Entwicklung der Liebe, hat zwei bedeutsame Eigenschaften. Sie, beziehungsweise er, richtet sich auf die gesamte Persönlichkeit, auf alle Gaben des Liebesobjekts, und führt zu dem Wunsch, entweder wie dieser Mensch oder selbst dieser Mensch zu sein. Nur diese rückhaltlose und uneingeschränkte Bewunde­rung ruft die besondere Art von Neid hervor, die meiner Ansicht nach die feste, unbewußte Grundlage der Liebe bildet. Eine solche Bewunderung sieht nicht die negativen Seiten eines Menschen, seine Schwächen und Fehler. Diese Eigenschaften stören uns nicht, denn wir sind so sehr von der Überlegenheit des Liebesobjekts fasziniert. Jungen und Mädchen in der Adoleszenz neigen oft dazu, auf solche Weise von einer hervorragenden Leistung oder einem hervorragenden Wesenszug der oder des Angebete­ten fasziniert zu sein. Sie sind auf großmütige Weise blind für die negative Seite des Charakters des Objekts. Um eine reife Persönlichkeit mit der beschriebenen Art von Neid zu erfüllen, ist mehr vonnöten.
Natürlich braucht sich auch diese Form unbewußten Neides nicht weiterzuentwickeln oder zur Liebe zu führen. Ich werde bald noch andere psychologische Umstände beschreiben, die für diese bestimmte Ent­wicklung nötig sind. Aus dem unbewußten Neid muß nicht nur keine Liebe werden, er kann sogar Haß und erbitterte Feindschaft zur Folge haben. Ebenso kann er sich in bewußten Neid und Eifersucht verwan­deln, und er kann so empfunden und bewältigt werden. Es ist möglich, daß er mit der Zeit nachläßt und verschwindet, besonders wenn man in anderen eigenen Leistungen und Eigenschaften Trost findet. Ein Trost­mechanismus kann daher helfen, das unangenehme Gefühl zu überwin­den, hilflos eine Niederlage zu erleiden. Man lernt diese psychische Dy­namik kennen, wenn man auf die Bemerkungen achtet, die Frauen in ihren aufrichtigeren Augenblicken über die überlegenen Eigenschaften ihrer Freundinnen oder Rivalinnen machen. Ihre Worte stimmen unbe­wußt mit diesem Mechanismus überein. »Ja, sie hat schöne Augen, das stimmt, aber sie hat nicht meine Figur.« Auf diese Weise wird die ewig weibliche Frage: »Was hat sie, was ich nicht habe?« in der Notlage beant­wortet, in der die Vorzüge einer anderen Frau anerkannt werden müssen. Durch eine solche Tröstung kann das Ich – und nicht nur bei Frauen – die Neidgefühle überwinden, welche die Schwelle der bewußten Empfin­dungen zu überschreiten drohen. Die andere Methode, diesen Neid zu bezwingen – die Methode, mit der wir uns hier beschäftigen -, ist die Liebe.


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