Vom Mythos der Existenzgründung – Überlegungen aus der Perspektive eines Coaches

Vom Mythos der Existenzgründung – Überlegungen aus der Perspektive eines Coaches

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Leidensdruck als Motivation

Zum Schluss möchte ich noch besonders auf den Aspekt der persönlichen Motivation zur Selbstständigkeit eingehen. Dabei handelt es sich, wie ich es schon zum Problem der Vorlaufsphase einer „Existenzgründung“ angedeutet habe, um eine ganz wichtige Angelegenheit. Was ist meine Motivation zur Existenzgründung? Was sind meine Beweg­gründe? Was treibt mich nach vorne? Verspüre ich eine gewisse Lust, selbst­ständig zu arbeiten? Kann ich mich auf Ungewissheit einlassen? Habe ich genügend Selbstvertrauen, dass mich auch die Unge-wissheit nicht schreckt? Wie sieht meine persönliche Situation aus? Wer unterstützt mich bei der Selbststän-digkeit? Was sagen Familie, Partner, Freunde dazu? Mache ich mich selbstständig aus einem Frust heraus oder weil ich arbeitslos geworden bin? Das Bild vom Existenzgründer hat natürlich etwas Großartiges und Motivierendes: In ihm steckt Pioniergeist, Abenteuerlust, Mut. Von diesen Eigen­schaften braucht der Betreffende auch tatsächlich etwas. Aber schauen wir noch ein­mal auf das Bild der Engländer, die nach Amerika ausgewandert sind und sich auf die große Überfahrt begeben haben. Was waren die Motive dieser Pioniere? Warum haben sie so viel gewagt und sich auf das große Abenteuer eingelassen? Die Antwort hat auf unseren Kontext bezogen etwas Überraschendes: Die Übersiedler sind überwiegend aus einer Not her-aus in See gestochen. Sie hatten gar keine Alternative. In ihrem Heimatland hatten sie keine Chance, sie mussten für sich neue Wege gehen, etwas wagen und ausprobieren. Und das ist auch bei vielen Existenzgründern der Fall. Sie sehen für sich nur den Weg in die Selbstständigkeit als wirkliche Chance, die sie ausprobieren möchten und oft auch müssen. Diese Motivation ist zunächst erst mal gar nichts Ehrenvolles und Großartiges gewesen. Fragt man Selbstständige, die es geschafft haben, die also die Exis-tenzgründungs­phase schon hinter sich haben, nach ihrer damaligen Intention und Motivation, trifft man auf ähnliche Grundsituationen. Man ist erstaunt, aus was für Situationen heraus der entscheidende Schritt in Richtung Selbst-ständigkeit gemacht wurde. Bei vielen ist es der Zufall, der seine Hand mit im Spiel hat. Vielleicht hat eine wirtschaftliche Not den Ausschlag zum entscheidenden Schritt gegeben oder ein zufälliger Erfolg beim unschuldi-gen Ausprobieren einer Sache. Aber immer geht der Existenzgründung ein nicht zu unterschätzendes existentielles Leiden voraus.

Wie wir gesehen haben, lässt sich die Selbstständigkeit bzw. der Mythos, der sie umgibt, auch gut zur Verschleie- rung der tatsächlichen Not nutzen. Dann werden Hilfen am Ende nur als Mittel zu einer Ablenkung von einem so nicht fruchtbar werden könnenden Leiden verwendet. Ein Coaching kann in einer solchen schwierigen Phase helfen zu erkennen, was als Anschub für eine schwierige Entwicklung hilf- reich sein kann und was uns auf die tatsächlichen Grenzen aufmerksam machen will. Ein gewisses Leiden in einer Vorlaufsphase kann die beste Voraussetzung im Sinne einer Motivation für den langen Prozess einer Selbst ständigkeitsentwicklung sein.


Bildquellen

  • Überfahrt: Karin Fischer