Wenn die Therapie mit Abbruch endet – Zu Struktur und Bedeutung von Therapieabbrüchen

Wenn die Therapie mit Abbruch endet – Zu Struktur und Bedeutung von Therapieabbrüchen

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Bei genauerem Hinsehen

Auch wenn die Klientin in dieser Situation und auch in einer späteren Abschlusssitzung der Therapeutin keinen Grund für ihren Abbruch nennen konnte, stellt sich mir dennoch die Frage, welcher Sinn in ihrem Handeln erkennbar wird. Ist es möglich, dass die Klientin mit ihrem abrupten Handeln etwas zum Ausdruck bringt, was sie nicht anders ausdrücken kann?
Dazu ist es nötig, das strukturelle Bild von der Klientin, so wie es sich im Laufe der Therapie herausgebildet hat, etwas genauer anzuschauen und auf diese besondere Form des Abschlusses zu beziehen. Dabei fällt auf, dass die Klientin ihr Leben lang einer Art „Missklang“ ausgesetzt war, der durchgehend ihre seelische Haltung bestimmte. Dieser Missklang begann schon in ihrer frühen Kindheit, genau genommen bei ihrer Entstehung. So erfuhr die Klientin erst wenige Jahre vor ihrer Therapie durch einen Zufall, dass ihr Vater nicht ihr wirklicher Vater war. Ihre Mutter, so erfuhr die nun fast fünfzigjährige Tochter, hatte sich gegen Ende des zweiten Weltkrieges mit einem Soldaten zu einem Spaziergang getroffen, in dessen Verlauf es offenbar zu sexuellen Kontakten gekommen war – ein Kontakt, den die Mutter ihrer Tochter als Vergewaltigung erklärte. Als Folge dieses einen Kontaktes wurde die Frau schwanger, während der Soldat in den Wirren der Nachkriegszeit spurlos von der Bildfläche verschwand. Neun Monate später gebar sie eine Tochter, die heutige Klientin. „Ich bin kein Kind der Liebe“, stellte sie der Therapeutin gegenüber fest. Ihren „jetzigen“ nicht leiblichen Vater lernte ihre Mutter kurz nach der „Vergewaltigung“ kennen. Dieser heiratete sie und war bereit, das fremde Kind offiziell als sein eigenes anzuerkennen, so dass ausgenommen einige eingeweihte Verwandte – die Umwelt und vor allem das Kind selber (also die heutige Klientin) – von dem „Betrug“ bis vor wenigen Jahren nichts wusste.
Psychologisch gesehen stellt sich hier die Frage, in welcher Art und Weise dieser „Betrug“ auf das Leben der Klientin Auswirkungen hatte: Die Beziehung der Mutter zur Klienten war immerwährend durch das große Familien-Geheimnis belastet, ein Geheimnis, das darüber hinaus auch eine Lüge einschloss: Der Stiefvater musste in diesem Arrangement den leiblichen Vater spielen. Statt Vaterstolz standen für ihn wahrscheinlich auch erst mal andere Dinge und Eingewöhnungen im Mittelpunkt.

Das psychische Umfeld in der Kindheit

Schauen wir nochmals auf die Mutter: Wir müssen davon ausgehen, dass ihr Verhältnis zu ihrem eigen Fleisch und Blut von Anfang an durch eine komplizierte Einstellung bestimmt war. Ihr Umgang mit ihrem Kind war latent immer davon bestimmt, einen bestimmten Verdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen, den Verdacht nämlich, dass ihre Tochter, salopp gesagt ein „Bastard“ sei. Fast fünfzig Jahre hatte sie ihrer Tochter die wahren Umstände ihrer Herkunft verschwiegen. Sie versuchte ihr stattdessen zu vermitteln („vorzuspielen“), dass sie unter glücklichen Umständen in einer glücklichen Beziehung zur Welt gekommen ist und kurz: ein „Kind der Liebe“ sei. Das lief wie eine Wiedergutmachung, so als müsse sie einen Mangel an ihrer Tochter ausgleichen. Ihre Liebe suchte sie ihr gleichsam zu beweisen. Eine solche Art Zuwendung kommt aber nicht aus dem Überschuss oder aus einem überschäumenden Glücksgefühl heraus und bildete so kein Modell für eine gefühlsmäßige Sicherheit.
Kinder testen schon mal die Liebe der Mutter darauf, ob sie denn wirklich hält, indem sie es zum Äußersten treiben. Das Kinderlied „Hänschen klein“ hilft hier zu verstehen: Im Sinnbild des ausziehenden Hänschens, der mit Stock und Hut in die weite Welt hineinzieht, wird genau das angesprochen. Das Kind „wagt“ ein Weglaufen, wenn es spürt, dass es potentiell diese weinende, echte Mutter für es gibt. Ein Kind, was sich dessen nicht sicher ist, wird diesen Test niemals wagen.

Wiedergutmachungsprogramm statt unverdiente Liebe

Die Liebe aus dem Wiedergutmachungsprogramm der Mutter war nicht als Ermutigung zu einem solchen Experiment geeignet. Auf die testenden und Grenzen berührenden Provokationen hat es wohl in den meisten Fällen Reaktionen einer überzogenen Freundlichkeit oder ein Ablenken auf ein anderes Thema gegeben. Mit diesem „Wiedergutmachungsprogramm“ aber schnitt sie dem Kind in den frühen Jahren des Lebens die Möglichkeit ab, einen festen Halt in einer gleichsam „unverdienten“ Liebe erfahren zu können. Entsprechende Experimente, die das hätten erfahrbar machen können, hat es nicht gegeben. Für das Kind und unsere Klientin bedeutet dies, einer Mutterliebe ausgesetzt zu sein, die immer ein wenig entstellt war. Die Folge dieser Umstände war ein Lebensmuster, in welchem Liebe und Zuwendung nur in Form von „Beweisen“ gedacht werden konnte. Wer sich aber Liebe „wünscht“ und dabei nach „Beweisen“ sucht, wird erfahren müssen, dass das eine das andere ausschließt: Das Einfordern von Liebe verbietet sich von selbst, wenn man etwas geschenkt haben will.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer