Wenn die Therapie mit Abbruch endet – Zu Struktur und Bedeutung von Therapieabbrüchen

Wenn die Therapie mit Abbruch endet – Zu Struktur und Bedeutung von Therapieabbrüchen

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Die Klientin ahnt etwas

Spätestens zu der Zeit, als die Klientin sich für eine Therapie entschieden hatte, spürte sie auch (z.B. im eigenen Misstrauen gegenüber ihrem „trauerlosen“ Weinen), dass die Methode des Wartens auf Liebesbeweise nicht wirklich die Erfüllung für sie bringt, auch dann nicht, wenn sie es nur weit genug damit treiben würde. Sie ahnte aber vielleicht, dass ihre Methode und Strategie noch einen anderen Zweck erfüllen sollte, nämlich von einer sehr unangenehmen und persönlichen Wahrheit abzulenken. Und diese könnte heißen: Ich kann Liebestaten und -geschenke prinzipiell nicht erkennen und annehmen, weil mir ein frühes Modell davon fehlt, ein Modell, was mir dabei helfen könnte, in Resonanz mit diesen Dingen zu sein. An die Stelle des fehlenden Modells trat ein künstliches und von der Realität weit abgehobenes Ideal, welches die Bewertungen und Entwicklungsversuche der Klientin bestimmte.
Eine Therapie barg für sie die Chance einer ganz neuen Erfahrung, die sie am Ende von einer zwanghaften Wiederholung in ihrer Entwicklung befreien könnte. Doch war der mögliche Preis hierfür nicht zu übersehen. Ohne ein zunächst ersatzloses Aufgeben der Idealisierung von Liebe und Zuneigung kann eine solche Veränderung nicht gelingen. Die Klientin müsste sich auf etwas einlassen, was ihr im Grunde noch völlig unbekannt ist. Würde die Therapie ihr „Niemals-richtig-satt-werden-können“ tatsächlich als ein Faktum an das Tageslicht bringen, wäre die bewährte, wenn auch trügerische, Sicherheit, auf Nimmerwiedersehen verloren. Der Entschluss, sich einer Therapie zu stellen, deutet also darauf hin, dass die Klientin an einen Punkt angekommen war, an dem sie den von ihr erahnten „Selbstbetrug“ nicht mehr weiter aushalten wollte. Durch das Sich-Stellen in einer Therapie machte sie es möglich, sich von einer vertrauensvollen Person in ihrer Methode einmal „erwischen“ zu lassen, um vielleicht so endlich einer natürlichen Trauer Raum geben zu können. Hierzu wird sie der Gedanke ermutigt haben, dass ihre Trauer in diesem Falle mitgetragen und geteilt werden könnte. Gemeint ist die Resonanz einer sie verstehenden und sie wertschätzenden Person, die sie in der Therapeutin gefunden hatte.

Was ist im Verlauf der Therapie geschehen?

In der Therapie traf sie auf eine Therapeutin, die ihr eine liebevolle Zuwendung entgegen brachte. Auf Grund ihres Misstrauens war es der Klientin auch hier nicht möglich, die „Liebes“-Angebote der Therapeutin als solche wahrzunehmen. Die Therapeutin fällt aber, anders als die „Mitspieler“ im normalen Leben, nicht auf die Techniken der Klientin herein (z.B. auf den Betrug ihres Sommerregen-Weinens). Sie bietet ihr stattdessen die Möglichkeit, einen Erfolg im Kleinen zu haben, nämlich einen als echt verspürten Kontakt zwischen Klientin und Therapeutin. Nicht der Beweis einer wahren und großen Zuneigung, sondern die besondere, eingehende „Art und Weise“ im Umgang miteinander bekam für die Klientin eine bisher wenig gekannte neue Bedeutung in der Therapie. Diese Art von Kontakt barg erstmals etwas wirklich „Echtes“, das von ihr als solches auch angenommen werden konnte. Diese neue Erfahrung führte nun zu einem gewissen Übermut, der die Klientin zu einer „Maximal-Prüfung“ verführte. Ihre Handlung fragt wie das Kind: Wie weit bin ich in der Lage, ohne Mutter (Therapeutin) zu leben? In diesem Sinne konfrontiert sie die Therapeutin mit ihrem Abbruch.
Noch einmal zusammengefasst: Die Erwartungen der Klientin an ein Angenommen und Geliebt-werden sind von einem unerfüllbaren Ideal bestimmt. Weil sie aber von einer frühen unkomplizierten Liebe wenig erfahren hat, fehlt ihr ein Modell für ihre Sehnsüchte, was diesen Wünschen die notwendige Erdung geben könnte. Die Klientin wurde im Grunde nie wirklich satt, weil sie immer viel zu viel erwartet hat. Sie hatte nie gelernt, die kleinen Dinge, in denen sich Liebe und Zuneigung ausdrücken, entsprechend wahrzunehmen. Ermutigt durch die zwar kleinen, aber echten Beziehungserfahrungen innerhalb der Therapie ging sie nun daran, zum ersten Mal auch ihre Idealisierung von Liebe zu testen. Und das tat sie – ganz gegen die Erwartung der Therapeutin – indem sie aus der Therapie weglief.

Der therapeutische Umgang mit dem Abbruch

Es brauchte nun für die Therapeutin mehrere Wochen und Versuche, die Klientin zu einem Abschlussgespräch zu gewinnen. Die Therapeutin wies zuletzt darauf hin, dass ein solches Gespräch auch für sie selbst sehr wichtig und gleichsam existentiell von Bedeutung sei, weil nämlich diese Therapie im Rahmen einer persönlichen Weiterbildung und Prüfung von ihr dokumentiert werden müsse. Die Klientin ging schließlich darauf ein. In dieser letzten Sitzung wirkte sie frisch und gelöst. Sie sah gut aus und konnte, wie sie erzählte, besser mit sich umgehen. Das hemmungs- (und trauer-) lose Weinen hatte sich eingestellt und es ging ihr, wie sie sagte, gut, auch wenn die Lebensumstände eher schwieriger geworden waren. Ihr Entschluss, die Therapie an dieser Stelle zu beenden, hatte sich allerdings nicht geändert – auch wenn sie für diesen Entschluss immer noch keinen Grund nennen konnte. Zugleich schien sie an psychologischen Reflexionen durchaus interessiert. So wollte sie beispielsweise ihr „Lebenspanorama“ (ein Bild, welches sie in der Therapie über ihr Leben gemalt hatte) zurück haben, um, wie sie sagte, zu Hause daran weiterzuarbeiten. Vermutlich geht es in diesem Wunsch auch um ein Erinnerungssymbol. Man kann sich gut vorstellen, dass dieses Erinnerungsbild eine Hilfe sein kann, wenn es darum geht, von einer nichterfüllbaren Sehnsucht Abschied zu nehmen und an dieser Umbewertung auch festhalten zu wollen.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer