Strukturelle Bedeutung von Therapieabschlüssen

Strukturelle Bedeutung von Therapieabschlüssen

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Gemeinsames Verlassen einer Institution

Zusammenfassend kann man sagen: Die Psychotherapie macht es möglich, Veränderungsspielräume in der Lebensgestaltung eines Menschen zu realisieren, weil sie eine besondere, beziehungsstrukturelle Form der Arbeit zwischen dem Klienten und dem Therapeuten möglich macht. Diese besondere Form hat aber wie jedes seelische Geschehen auch eine Kehrseite, die unabwendbar mit hinzugehört: Die genutzte Zwischenwelt mit ihrer beziehungsstrukturellen Arbeit kann zu einer Falle werden! Denn, was in einer Psychotherapie zunächst gelingt, ist nicht im gleichen Augenblick auch schon im Sinne der Selbständigkeit eines Klienten gesichert. Hierzu gehört vielmehr noch die Übersetzung der neuen Erfahrung in die sinnliche Dichte eines „Bildes“ (Märchen, Schlüsselerlebnis) und darauf aufbauend – ganz wichtig – die Spiegelung des Neuerfahrenen auf die höchst individuelle, und vom Fall her bestimmte Form des Therapie-Endes.

Eine gelungene Psychotherapie endet mit der von beiden Seiten gewürdigten Übertragung des vom Klienten in die Therapie eingebrachten und gemeinsam vertieften Handlungsmusters auf das ganz konkrete Trennungsgeschehen in der Therapie. Ein so gerahmter Therapieabschluss bedeutet nicht nur eine Vertiefung des Erfahrenen, sondern ermöglicht darüber hinaus auch eine ernsthafte erste Bewährung für die neu entdeckten Spielräume. Das Ende ist auch die Herausforderung an den Klienten, auf gleicher Ebene mit dem Therapeuten Abschied zu nehmen von einer Institution, welche die gemeinsame Arbeit bisher getragen hat.

Das Ende der Lektüre als Analogie

Und während wir uns über die Zusammenfassung noch einmal dem Problem eines Therapie-Endes stellen, rückt ein weiteres Ende in die Aufmerksamkeit: Gemeint ist der Abschluss eines Lektüreprozesses. Der Leser könnte die oben stehende Zusammenfassung als ein formgerechtes Angebot für das Ende seiner Lektüre nehmen und ein weiteres Verarbeiten des neu Gesehenen auf einen späteren Zeitpunkt hin verschieben. Er könnte aber auch nach einer Form von Abschluss suchen, die dem Vorbild eines Therapie-Endes folgt. In diesem Falle müsste er versuchen, eine Form von Abschluss herzustellen, die der neuen Erfahrung des Gelesenen wie in einer Analogie entspricht.

Nachschaffendes Verarbeiten

Um dem Leser diese Möglichkeit zu geben, werde ich dem eigentlich schon abgeschlossenen Gedankengang jetzt noch etwas hinzufügen. Dabei geht es um eine Erweiterung, die vielleicht nicht so sehr für einem Lektürebeitrag, wohl aber für eine strukturelle Therapie von Bedeutung ist: Ich werde im Folgenden das, was den Kern des vorliegenden Aufsatzes ausmacht, in die verdichtete Form eines Gleichnisses und zwar eines Märchens bringen. Hierbei handelt es sich um das Märchen von Rapunzel (Gebr. Grimm, 1812) . In diesem Märchen kann der Leser die Formel für das Besondere eines Therapie-Endes wiederfinden. Das Märchen bietet sich wie eine komplexe Analogie für das besondere Problem einer Therapie und ihres Abschlusses an. Im Märchen von Rapunzel wird die Therapie wie eine Schwangerschaft beschrieben. In einem Turm findet eine intensive Begegnung mit Folgen statt. Aber die Folgen wollen in einem längerem Prozess erst einmal ausgetragen werden, damit am Ende nach aller Verwirrung ein erlösendes Ja zur Entwicklung gesagt werden kann.

Der Turm im Märchen ist ein Ort, an dem etwas passiert, was so nicht von den beiden, die sich dort begegnen, geplant war. Anders geht es dagegen in der Vorgeschichte des Märchens zu. Die Schwangerschaft der Eltern ist sehr wohl geplant und wird lange Zeit vergeblich herbeigewünscht. Die Eltern von Rapunzel befinden sich in einer ständigen Erwartungshaltung, sind getrieben von unstillbarem Verlangen, was am Ende sogar erpresserisch auftritt und mit körperlich drohendem Verfall sich durchsetzt, wobei das Kind wegen eines unguten Handels ihnen gleich nach der Geburt wieder abgenommen wird. Im Rapunzelturm ergibt sich eine Schwangerschaft eher wie nebenbei, ja fast schon wie ein Unfall. Das lustvolle Beisammensein wird durch das Schwangerwerden von Rapunzel jäh unterbrochen. In der Urfassung des Märchens heißt es: Rapunzel sagt zur Gothel, dass ihr die Kleider immer enger werden, worauf diese zugleich die volle Bedeutung des Geschehens erfasst und ihre Veranlassungen trifft, der veränderten Situation Rechnung zu tragen. Rapunzel wird in eine Art von Wüstenei verbannt. Das setzt ins Bild und erkennt an, dass die Schwanger-Gewordene sich in einen völlig neuen und unbekannten Zustand versetzt fühlen muss. Das Gleichnis der Wüstenei meint eine wildnishafte Umgebung, in der es keine vertrauten Wege gibt, und wo alles wie zum ersten mal geschieht. So ähnlich ergeht es einem Klienten, wenn es ihm möglich wird, ein Bild anzuschauen, das sein Handeln in den tiefsten Gründen zusammenhält und darin eingeschlossen ein paar verwirrende Wendungen und Spielräume zeigt.


Bildquellen

  • Rapunzel: Walter Crane