Strukturelle Bedeutung von Therapieabschlüssen

Strukturelle Bedeutung von Therapieabschlüssen

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Austragen der „Schwangerschaft“

Das neue Bild drängt darauf, sich auszuentfalten und seine eigene Entwicklung zu nehmen. Aber dazu bedarf es noch einiger unterstützender Maßnahmen und der richtigen, hierzu passenden Haltung. Vor allen Dingen der Augenblick der erfolgten Fruchtbarwerdung, oder des „in Hoffnung-Kommens“ ist von einer herausragenden Bedeutung. Er verwandelt mit einem Schlag die vorangegangene Zweisamkeit in etwas wesentlich Komplizierteres. Der Therapeut kann durchaus darüber erschrecken, was er mit in Gang gebracht hat. Mit der „Schwangerschaft“ sind ihm die gewohnten Korrekturmöglichkeiten vergeben. Aus und Vorbei! Jetzt kommt es alleine auf ein Austragen des angelegten Ansatzes an. Und hierzu kann im Falle der Schwangerschaft der Vater, oder im Falle der Therapie der Therapeut, nicht wirklich mehr allzu viel beitragen. Es kommt für ihn vielmehr darauf an, dass er auch seine negativen Impulse mitbekommt, nämlich, dass ihm jetzt etwas (durch die Festlegung) entzogen ist und dass ihm das als Gestaltender in seinem tiefsten Inneren nicht so gut gefallen kann. Er muss diese Erfahrung in ein großzügiges, fast könnte man sagen „blindes“ Vertrauen in die Entwicklung umwandeln können. Im Märchen ist dies durch den impulsiven Sprung des gar nicht erfreuten Königssohn, vom Turm ausgedrückt und durch sein anschließendes Blindsein (weil er sich in den Dornen das Augenlicht verblendet). Der Klient trägt wie im Märchen alleine und in einer „Wildnis“ das Neue aus. Der Therapeut hat sich hierbei weitgehend zurückzunehmen und muss „nur“ bereitstehen, das ausgetragene Neue zu erkennen. Wichtig ist aber auch, dass dem Psychotherapeuten, der in dem Therapieprozess eine mehr oder weniger funktionalisierte Bedeutung einzunehmen hatte, am Ende auf einer neuen Ebene begegnet werden kann. In den Tränen von Rapunzel findet eine solche Begegnung statt. Es ist, auf die Analogie der Therapie bezogen, eine Art von Versöhnung und Anerkennung, die hier wie auf gleicher Ebene stattfinden kann.

Der Klient soll das Ende einer Therapie als sein, von ihm selbst gestaltetes, Ende erkennen können. Er kann in einer neuen Begegnung mit dem Therapeuten wie Rapunzel einen Prozess abschließen, an dessen Ende etwas steht, was nach Zeiten von Unsicherheiten und Verwirrungen (Wüstenei) in die Verfügbarkeit von etwas Eigenem hinübergegangen ist. Die erfahrenen und auch die zugemuteten Leiden und Entsagungen werden nach der umweghaften, nachschaffenden Entwicklung nun auf eine neue Weise bewertet und mit den Tränen, die im Märchen von Rapunzel auf die Augen des Königssohnes fallen, auch ganz und gar bejaht.

Eine Therapie, findet ihren Abschluss nicht schon in einer befruchtenden neuen Erfahrung, die in einem therapeutischen Prozess gleich einer Schwangerschaft stattfindet. Die Psychotherapie beinhaltet vielmehr noch das Austragen des Neuerfahrenen und das letztendliche Vorzeigenkönnen des lebensfähigen Neuen. Im Märchen sind die ausgetragenen Zwillinge sogar schon ein paar Jahre alt.

Analog hierzu hätte der Leseprozess mit der Zusammenfassung im letzten Kapitel auch schon enden können. Das „Austragen“ des Neu-Erfahrenen wäre dabei auf die Zeit nach der Lektüre verschoben. Damit der Leser das besondere Wissen um die Therapie- Abschlussproblematik aber schon in der Lektüre anwenden kann, war es mir wichtig, auch strukturell die Möglichkeit hierzu in dem Artikel einzurichten. Durch das angehängte Märchen kann der Leser seine neuen Erfahrungen, die er in dem Artikel machen konnte, noch in dem Leseprozess selbst durcharbeiten. Der Autor darf und muss darauf vertrauen.


Bildquellen

  • Rapunzel: Walter Crane