Vom Mythos der Existenzgründung – Überlegungen aus der Perspektive eines Coaches

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Entwicklung einer Haltung
Wichtig für eine Entscheidung zur Selbstständigkeit ist neben dem vorausgehenden Leid auch eine besondere Haltung, die der Betreffende entwickelt. Gibt es nun auch besondere Eigenschaften oder ein besonderes Potential, das ein Existenzgründer besitzen oder entwickeln sollte? Friedrich Nietzsche bringt die Frage nach der besonderen Fähigkeit des Selbstständigen auf den Punkt: „Es gibt Anstellige und Angestellte, aber es gibt auch Selbstständige, die müssen sich selber stellen, oder sie fallen um.“ Der Gründer ist demnach ein Charakter, der „sich selber stellen“ kann und auf diesem Weg Erfolg erzielt und so am Markt bestehen kann.
„Sich stellen“ bedeutet dabei übrigens auch, sich selbstkritisch reflektieren zu können. Wer allzu große Schwierigkeiten damit hat, für den kann die Existenzgründung leicht zu einer Ablenkung werden von einem zentralen persönlichen Problem. Vielleicht möchte er mit allen Mitteln einen Zweifel beseitigen, den er sich selbst gegenüber hegt. Er möchte vielleicht selbstständig sein, weil es für ihn ein Ideal ist, mit dem er von einer Unzulänglichkeit ablenken kann. Oder ihm gefällt das Bild von der Unabhängigkeit, weil er anderen Menschen ihre Abhängigkeit vor Augen halten will. Vielleicht glaubt er auch, dass er im Freundes- oder Familienkreis nur so die große Anerkennung bekommen wird, weil der Selbstständige für ihn jemand ist, der es geschafft hat, und der als Typus schon ganz oben auf der Erfolgsleiter steht.
Wenn der Betreffende derart von dem Bild eines Ideals geleitet ist und ihm hinterher jagt, schadet er sich. Eine echte Auseinandersetzung mit seinen Wünschen, Fähigkeiten und Problemen findet so nicht statt. Der Betreffende muss sich fragen, warum es für ihn so wichtig ist, nach außen hin als selbstständig wirken zu müssen und über sich sagen zu können, dass er „irgendwer Tolles“ sei.
Zum Sinn eines Coachings
Ein Coaching kann helfen, solche Fragen zu stellen und den nötigen Kontakt zu der eigenen Psychodynamik herzustellen, welche auf ihre Weise das Problem der beruflichen Entwicklung mitbestimmt. In der analytischen Beratung und in einem Coaching schauen wir darauf, wie die strukturellen Probleme einer Existenzgrün-dung mit den persönlichen Verhältnissen im Charakter und in der Entwick-lung zusammenhängen. Die persönliche Entwicklung kann nämlich Aufschluss darüber geben, ob und wie der Betreffende für eine Existenzgrün-dung geeignet ist. An welchen Stellen ist er besonders gefährdet? Worauf muss er besonders achten? Wie kann er Fehler vermeiden bzw. wo ist er prädestiniert, Fehler zu machen?
Jemand, der in seiner persönlichen Entwicklung irgend etwas nicht „hinbekommen“ hat, wird auch bei einer Existenzgründung ein Problem an ähn-licher Stelle haben: Angenommen, man macht in seiner persönlichen Entwicklung aus verschiedenen Gründen im-mer wieder schlechte Erfahrungen mit seinen Lehrern, Ausbildern oder Vorgesetzten, z.B. „kommt nicht mit dem Vorgesetzten klar“, dann ist es wichtig, sich diesen Punkt genauer anzuschauen. Der Betreffende kann dabei feststellen, was in einer speziellen Situation mit Vorgesetzten vielleicht immer wieder „schief geht“ und nach dem gleichen Muster abläuft. Eine solche Erkenntnis kann dann helfen, die Voraussetzungen für die berufliche Selbstständigkeit des Betreffenden zu verbessern. Denn hier hat er es in gewisser Weise auch wieder mit Vorgesetzten zu tun, und zwar in Form von Kunden. Und eben diese möchte er ja gewinnen und halten können. Also muss der Betreffende sein Verhalten an den Punkten ändern, an denen er früher immer gescheitert ist.
Dass man als Selbstständiger in jeder Hinsicht ein anderes Arbeitsleben führt als ein Angestellter, ist also nur bedingt richtig: Meine Auftraggeber können genauso unangenehm sein wie mein Chef. Gerade der Selbstständige muss sich selbst stellen können, offen für Neues und neue Situationen sein und Spielraum herstellen können für immer wieder neue Situationen. Nur so kann er die eigene Selbstständigkeit weiterentwickeln und halten. Für den Selbstständigen gibt es also keinen Stillstand. Er ist nicht irgendwo angestellt, so wie man etwas an einen festen Gegenstand anlehnt. Er muss sich vielmehr unentwegt selber stellen. Es geht dabei um eine Haltung, die zum Unfertigen steht, sich aber nicht gleich-zeitig mit diesem Prinzip zu entschuldigen versucht.
Bildquellen
- Überfahrt: Karin Fischer