Zur Frage nach den Anfängen des Seelischen

Zur Frage nach den Anfängen des Seelischen

W. Ernest Freuds Beitrag zur analytischen Säuglingsbeobachtung als Ansatz einer Theoriebildung

Mit dem folgenden Beitrag möchte ich einen Blick auf das Gebiet der frühen Säuglingsbeobachtung und der psychologischen Frühgeborenenforschung werfen. Da mich hierbei eine entwicklungsorientierte und bildanalytische Perspektive leitet, interessieren mich nicht nur die geschichtlichen Besonderheiten dieser frühen Entwicklungsphase, sondern es bewegt mich auch die Frage, wie die Beobachtungen in ein Verständnis vom allgemeinen Funktionieren seelischer Abläufe zu übertragen sind. Aus diesem Grunde werde ich meine Überlegungen in den Rahmen eines hierzu passenden Modells von Entwicklung stellen.
Anstoß für meine Überlegungen gab ein Vortrag W.E. Freuds, den er 1988 aus Anlass eines ersten öffentlichen Auftretens unseres Psychosozialen Forums gehalten hat. Sein besonderer Blick auf das Forschungsgebiet der frühen Säuglingsbeobachtung und sein persönliches Engagement auf diesem Gebiet hatten mich neugierig gemacht. Wie sein Großvater Sigmund Freud hatte auch er sein Interesse auf eine scheinbar nicht vollwertige seelische Form gerichtet, nämlich auf die Psyche des zu früh geborenen Säuglings. Als ich davon erfuhr, stellte ich mir vor, dass auf diese Weise wichtige neue Erkenntnisse über das seelische Funktionieren in den Blick geraten müssten – wie zuvor schon über die Erforschung der scheinbar nicht vollwertigen Formen des nächtlichen Seelenlebens und der alltäglichen Versprecher und Fehlleistungen durch den Begründer der Psychoanalyse. Der Vortrag von W.E. Freud, der mich zu diesem Beitrag und zu einem Weiterdenken an dieser Stelle angeregt hat, ist in der vorliegenden Ausgabe der Fachzeitschrift nachzulesen.

Modellvorstellung von den seelischen Entwicklungsräumen

Stellen wir uns die psychische Entwicklung eines Menschen wie eine Reise durch bestimmte seelische Räume vor. Und denken wir uns diese Räume so, dass sie sich derart voneinander unterscheiden, wie es die kulturellen Lebensräume in den verschiedenen Ländern und Kulturkreisen tun, dann können wir uns die persönliche Sozialisation und Entwicklung eines Einzelnen so vorstellen, als wenn es dabei um die Reise eines bildungsfähigen Menschen durch die verschiedenen kulturellen Landschaften hindurch ginge. Unsere „Seelenkultivierung“ lässt sich tatsächlich – zu einem großen Teil jedenfalls – damit vergleichen: Es gibt nämlich bestimmte „seelische Räume“, durch die muss der Heranwachsende hindurch. Sie beinhalten Vorgaben im Sinne eines Entgegenkommens, da sie bestimmte Möglichkeiten und Spielräume eröffnen und bestimmte Grenzen setzen. Was in dem Vergleich des psychischen Heranwachsens mit einer Reise durch die verschiedensten Kulturkreise allerdings nicht so gut zusammenpasst, ist die Beliebigkeit, mit welcher der Betreffende in dem Reisebild die verschiedenen Landschaften durchwandern kann. Unsere seelische Kultivierung legt stattdessen eine bestimmte Route fest und entsprechend auch eine bestimmte Anordnung von den in den Ansprüchen steigenden Lebensräumen . Denn was die Entwicklung im Sinne einer Sozialisation betrifft – so ist das Ziel einer solchen Reise gleichsam vorgegeben. Am Ende soll eine gewisse seelische Reife erreicht werden. Und um im Bild zu bleiben, können wir sagen, dass der Betreffende am Ende in einem bestimmen Kulturkreis oder Land angekommen sein muss.
Bestimmte Bereiche dieser Wanderung sind inzwischen gut erforscht. Die Psychoanalyse leistete hierbei Pionierarbeit und das besonders in einer bestimmten Region. S. Freud hatte sich genau dem „Raum“ gewidmet, in welchem es um die reifen seelischen Leistungen geht, auch wenn er seinen blick dabei vor allem auf die Störungen und andere Auffälligkeiten ausgerichtet hatte. Dabei denke ich z.B. an die neurotischen Störungen oder an die Auffälligkeiten unseres nächtlichen Seelenlebens sowie an die alltäglichen Fehlleistungen. Was die seelische Entwicklung angeht, müssen wir aber von drei verschiedenen Seelenräumen ausgehen, die in einer bestimmten Reihenfolge durchwandert werden. In ihnen herrschen jeweils verschiedene Gesetzmäßigkeiten, und die Akzente und Gewichte sind unterschiedlich gesetzt. Weiterhin können wir davon ausgehen, dass in jedem dieser Räume auch spezifische Gefahren existieren und eigene Möglichkeiten diese abzuwehren und ihnen vorzubeugen.


Bildquellen

  • Wellen: Karin Fischer