Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

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Säuglingsbeobachtung als Teil der Psychoanalytischen Ausbildung

Bevor ich jetzt weiter über meinen persönlichen Weg in diesem Forschungsbereich erzähle, will ich noch auf eine besondere Möglichkeit des Erfahrungensammelns in diesem Gebiet eingehen. Es handelt sich dabei um ein Beobachtungstraining, das bei uns in England mit zur Psychoanalytiker-Ausbildung gehört. Die Mutter-Säuglings-Beobachtung wird bei uns nämlich für sehr wichtig gehalten und im Rahmen der psychoanalytischen Ausbildung angeboten. Der Psychoanalytiker wird in seiner Ausbildung vor allem auf die Pathologie, also auf die Arbeit mit der Krankheit vorbereitet. Und diejenigen, die den Lehrplan entwarfen, dachten sich, es sei doch sehr wichtig, dass ein Psychoanalytiker auch etwas von der normalen Entwicklung versteht. Und so fanden sie es nützlich, den Auszubildenden als Beobachter in eine Familie zu schicken. Dort sollte er eine Mutter mit einem neugeborenen Kind während des ersten Lebensjahres beobachten. Und wenn Zeit ist, auch noch während des zweiten Lebensjahres, damit er überhaupt mal einen Begriff davon bekommt, wie ein Säugling zum Kleinkind heranwächst und sich entwickelt. Es war ihnen aber vielleicht auch noch aus einem anderen Grunde wichtig: In unserer Arbeit als Psychoanalytiker geht es doch im wesentlichen um ein Beobachten- und Zuhörenkönnen. Und so kann dieses Training auch als eine ganz allgemeine me­thodische Vorbereitung auf das spätere Arbeiten gesehen werden
Konkret sah das so aus, dass die Auszubildenden einmal in der Woche für eine Stunde eine Familie besuchten. Wir suchten uns eine Familie mit einem Neugeborenen aus, und gingen dann einfach dorthin und beobachteten. Der Student wurde angeregt, darüber nachzudenken, in wiefern und aus welchen Gründen seine Rolle, die er konkret als Beobachtender vor Ort einnimmt, der Rolle eines Analytikers ähnelt bzw. sich von ihr unterscheidet.
Das Modell, welches die psychoanalytische Handlungsweise bestimmt, unterscheidet sich recht grundlegend von einem medizinischen Modell: Das psychoanalytische Handeln ist relativ passiv, und es gibt wenig Eingriffe. Unsere Eingriffe sind die Deutungen. Wenn wir zusammen mit dem Patienten etwas erarbeiten und etwas mehr sehen können als er, geben wir ihm zum geeigneten Zeitpunkt eine Deutung. Dabei geht es dann um unsere Eindrücke. Das ist schon sehr verschieden von der Medizin, bei der man eigentlich dauernd etwas tun muss, etwas machen muss, eingreifen muss, helfen muss. Nun, obwohl die beiden Modelle sehr unterschiedlich sind, sollten sie sich eigentlich ergänzen. Hier der Arzt in seiner Praxis, der im Zeitraum seiner Sprechstunde eine Menge Patienten sieht und nie genügend Zeit hat, um wirklich soviel zuzuhören wie nötig wäre und da der Psychoanalytiker, der jedem Patienten 50 Minuten geben kann, und sehr viel mehr Zeit zum Beobachten hat.
Unsere Aufgabe als Psychoanalytiker besteht darin, dass wir sozusagen den Patienten begleiten, im weitesten Sinne. Wir versuchen uns einzuschalten und zu empathisieren, mitzufühlen, auf der gleichen Wellenlänge zu sein mit dem Patienten, ihn zu verstehen. Mit einer solchen Haltung sollten wir auch an eine Säuglingsbeobachtung herangehen. Aber es gibt hier noch ein besonderes Problem: Wie ein englischer Pädiater und Psychoanalytiker (*2) schon sagte, „Es gibt kein Baby, es gibt immer nur eine Mutter und ein Baby.“ Und was wichtig ist, ist die Interaktion zwischen Mutter und Baby – der affektive Austausch zwischen den beiden.
Wenn wir nun also in so eine Familie gehen, sehen wir nicht nur Mutter und Baby, sondern wenn wir Glück haben, ist da noch ein älteres Geschwister. Wir sehen den Vater, manchmal die Großmutter, den Großvater, die Freunde der Familie, so dass wir ein ziemlich „sprechendes“ Bild der Familie bekommen. Also wir beobachten für eine Stunde, dann verlassen wir die Familie bis zur nächsten Woche. Und nach der Beobachtung schreiben wir unsere Beobachtungen auf in einem Protokoll, und diese Protokolle werden in einem Seminar wöchentlich diskutiert. Es ist eine kleine Gruppe; optimal vier Beobachter in verschiedenen Familien, die sich dann gegenseitig ihre Beobachtungen vortragen, und wir versuchen herauszufinden, was ist eigentlich in dieser Stunde während unserer Beobachtung geschehen? Und durch den Austausch, weil ja jeder das etwas anders sieht und etwas anders auffasst, kriegen wir ein ganz gutes Bild, was zwischen der Mutter und dem Kind und den anderen Familienmitgliedern eigentlich vorgeht.
In diesen Gruppen von vier Leuten sind also Studenten und Studentinnen, die alle in psychoanalytischer Ausbildung sind. Und das heißt, sie sind selbst in psychoanalytischer Behandlung. Persönliche Schwierigkeiten, die in der Beobachtung von so frühen Erlebnissen immer wieder aufkommen, werden in der eigenen Analyse „behandelt“, also durchgesprochen. Durch die Beobachtung werden oft ganz alte Erinnerungen wieder wach gerufen. Und das löst manchmal Probleme aus. Man stößt auf alte Konflikte, die man selber nicht hinreichend optimal bewältigt hat. Und das kann dann in der Analyse zur Sprache kommen. Es ist eigentlich eine Vorbedingung, dass diese Beobachter selbst in einer Trainingsanalyse sind.
Die Beobachter bekommen gewisse Handlungsanweisungen. Sie sollen sich ähnlich wie ein Analytiker verhalten, nicht kritisieren, nicht moralisieren, nicht aktiv eingreifen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Wenn es allerdings so aussieht, als ob das Baby von der Wickelkommode rollt, greift man natürlich schon ein, um das zu verhindern. Wenn das Baby aber in seinem Bettchen liegt und anfängt zu weinen, soll der Beobachter nicht eingreifen, sondern erst mal abwarten, was die Mutter tut. Sonst ist eine Chance zur Beobachtung verloren. Es findet dann nicht statt, was die Mutter gewohnt ist zu tun, und sie wird das Baby so vielleicht nicht aufnehmen und beruhigen. Und der Beobachter soll so wenig wie möglich von sich selber sprechen, sondern der Mutter zuhören. Er soll ihre Fragen beantworten, um ihre Neugier zu befriedigen, aber dann nicht anfangen, von sich selber und von seinen Problemen zu erzählen.
Der Beobachter bekommt nach einiger Zeit ein ganz gutes Gefühl für das emotionelle Klima in der Familie, für das jeweils vorherrschende emotionelle Wetter. Das kann aber durch Verschiebung gelegentlich auch über-schwappen, wenn da sehr viel Diskussion ist. Aber er soll sich da nicht hineinziehen lassen und sich nicht einmischen. Der Auszubildende hat die Möglichkeit, anhand seiner Beobachtungen psychoanalytische Begriffe zu lernen. Das ergänzt die theoretische Ausbildung, ist aber natürlich viel lebhafter als in den theoretischen Vorlesungen.
Ich gebe Ihnen vielleicht ein Beispiel von den Abwehrmechanismen, die man bei solchen Beobachtungen studieren kann: Abwehrmechanismen sind psychologische Mechanismen, die ein Mensch verwendet, um sich gegen Unlusterfahrungen zu schützen. Das ist etwas ganz Normales. Beim Säugling schaut das so aus: Der Beobachter kann die primitiven Reaktionen auf Unlust beobachten. Also, ein Säugling kann entweder protestieren, wenn ihm etwas nicht gefällt, er kann zum Beispiel schreien, oder er kann die Situation vermeiden, versuchen sich zurückzuziehen. Zum Beispiel kann er einschlafen, das ist ein etwas radikaler Rückzug. Oder er kann regredieren – in frühere Ausdrucksweisen zurückgehen – oder er kann somatisieren. Wenn es nicht erlaubt ist, dass er Unlust zeigt und schreit, wenn ihm das verboten wird, dann kriegt er vielleicht Durchfall, da somatisiert der Körper. Oder er schläft ein, wie schon gesagt. Oder, er übergibt sich. Der Körper reagiert eben.
An den älteren Geschwistern – wenn welche da sind – können wir beobachten, welche Abwehrmaßnahmen sie gegen Unlust ausführen, wie sie sich verhalten, wenn ihnen etwas nicht gefällt, oder wenn sie nicht das Spielzeug bekommen, was sie gerne haben wollen. Es gibt eine Menge von Abwehrmechanismen, um mit der auftretenden Unlust fertig zu werden. Und bei den erwachsenen Mitgliedern kann man sehr gut die klassischen Abwehrmechanismen beobachten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel.
Ein amerikanischer Beobachter traf bei seinem zweiten Familienbesuch den Vater. Und er schrieb dann in sein Protokoll: „Obwohl wir gut miteinander auskamen, brachte der Vater vielleicht seine Gefühle gegenüber dem Beobachter zum Ausdruck, als er feststellte, ‚die amerikanische Außenpolitik stecke ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Staaten‘. Er machte diese Bemerkung bei einer kurzen Diskussion über Präsident Nixon. Das war zu der Zeit, als Präsident Nixon am Ruder war. Es handelte sich hier vermutlich um eine Verschiebung. Er sagte durch die Blume zu dem Beobachter, „Sie sind hier ein Eindringling, Sie stecken Ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute“, was ihm nicht so gut gefiel. Es ist ja verständlich. Wir sind Eindringlinge in diese Familien, und es ist eigentlich ein klassisches Beispiel einer Verschiebung. Es verschob sich von der Familie, die durch den Eindringling Unlust empfand. Aber er konnte es nicht gerade heraus sagen, und zum Zwecke der Verschiebung fiel ihm das Beispiel von Präsident Nixon und der amerikanischen Politik ein.


Bildquellen

  • W. Ernet Freud: Werner Mikus