Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

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Das wichtigste Bedürfnis ist wohl die Miteinbeziehung und aktive Teilnahme an der Fürsorge. Und das gerade geschieht am wenigsten. Denn man lässt sie ja nicht – aus medizinischen Gründen. Also am Anfang galt die Infektionsgefahr, bis jemand überzeugend zeigen konnte, durch eine Forschung, dass die Bakterienflora der Mutter eigentlich ein Schutz für das Neugeborene ist. Die Krankenhausbakterien sind viel gefährlicher. Also sogenannte crossinfections , die man im Krankenhaus bekommt. Nachdem das mal bewiesen war – statistisch – es muss ja alles statistisch bewiesen werden, weil wir einen Sicherheitsfaktor haben und keine Risiken eingehen möchten – ich sage das so mit der Zunge in der Backe. Es ist sicher ungemein wichtig, aber manchmal führt es auch dazu, dass Fortschritt etwas verzögert wird. Jedenfalls, nachdem das bewiesen war, wurden die Eltern hineingelassen. Und heutzutage können sie ja auch in den Brutkasten hineingreifen – jeder Brutkasten hat so mehrere Luken – können das Baby anfassen und streicheln, können auch das Baby herausnehmen – in den fortschrittlichen Stationen – und es halten. In den ganz fortschrittlichen Stationen dürfen auch die Geschwister zu Besuch kommen und dann auch das Baby halten, und so weiter.
Also soviel zu den basischen Bedürfnisse der Mütter. Wenn die Mutter also aktiv teilnehmen kann, ist das die beste Therapie, um über diesen Schock wegzukommen. Und diese Einschränkung des Besuches führt ja auch dazu, dass die Eltern nicht lange zu Besuch bleiben. Sie haben eigentlich keine Rolle, oder viel zu wenig, das ist das eine. Das andere sind die hohen Temperaturen. Und es gibt nur sehr wenige Stationen, die also wirklich den Müttern erlauben sich umzuziehen und zu duschen, die Schließfächer haben für die Kleidung der Mütter, usw. – das ist ein ganz großes Kapitel.
Die basischen Bedürfnisse des Frühchens sind:
– Kontinuität
– ununterbrochene Interaktion
– Stimulierung
Das Stimulieren versucht man auch auf den Frühgeborenenintensivstationen. Es gibt dort großangelegte Stimulierungsprogramme. Zum Beispiel, dass der Inkubator geschaukelt wird. Sie entwickeln sich dann besser. Oder, dass das Frühchen auf einem Lammfell liegt. Das ist ein Ersatz für den Körperkontakt. Und sie entwickeln sich auch besser auf dem Lammfell, nehmen dann z.B. schneller an Gewicht zu. Und diese Stimulierungsversuche sind eigentlich sehr stümperhaft, aber das ist dennoch oft das Beste, was man im jeweiligen Falle zu bieten hat. Sie bekommen z.B. Physiotherapie, Massage. Und das schaut am Anfang so aus, dass man ihnen mit einer elektrischen Zahnbürste über die Haut geht. Das klingt eigentlich unglaublich, aber das gibt es. Es lassen sich auch unbegrenzte Saugmöglichkeiten anbieten, oder Möglichkeiten für ein Nuckeln, was ja eine Vorbereitung zum späteren Stillen ist. Am besten wäre es auch für das Baby, wenn es möglichst nur eine Fürsorgerin gäbe. Also ein und dieselbe Fürsorgerin für das gleiche Kind. Was aber praktisch nicht durchführbar ist, und so gibt es im günstigen Falle dann drei, wegen des Schichtwechsels.
Nun, ich nehme etwas mehr Zeit in Anspruch als ich gedacht habe. Vielleicht könnten wir uns an dieser Stelle ein paar Dias anschauen, und ich ergänze dann noch das eine oder andere.

Ergänzende Bemerkungen anhand von Dias

Zur Illustration der besonderen Situation des Frühchens in einer Frühgeborenenstation werden jetzt noch ein paar Dias vorgestellt, beginnend mit einem Diagramm. Es stellt das Zusammensein zwischen Mutter und Baby als eine Linie dar, die bis zu dem Punkt gradlinig verläuft, an dem ihr Zusammensein abrupt unterbrochen wird. Das Zusammensein, so kommentiert der Vortragende hierzu, garantiert den Aufbau einer Art „psychologischen Immunität“. Das Kind baue im allgemeinen, durch die im Mutterleib schon stattfindende optimale Interaktion eine Art von Vertrauensreservoir auf. Auch nach der Geburt sollten daher die beiden, also Mutter und Kind, idealerweise nur eine möglichst kurze Zeit von einander getrennt sein.
Auf einem der gezeigten Dias wird eindrucksvoll sichtbar, wie unwirtlich es in einem Brutkasten ist. Vor lauter Apparaturen kann man das winzige Baby darin kaum noch erkennen. Der Vortragende weist aber auch darauf hin, dass und wie man mit der einen oder anderen „kleinen“ Maßnahme versucht, dem Frühchen in seiner traurigen Lage zu helfen. Ein Dia zeigt in diesem Zusammenhang einen Schaukelstuhl, der in den amerikanischen Kliniken häufig vorkommt. Jeder, der sich mit dem Baby da hineinsetzt, ob nun Mutter, Schwester oder Arzt, schaukelt auf diese Weise automatisch und führt damit eine schon vorgeburtlich vertraute rhythmische Bewegung aus.
Das Unwirtliche des vorgegebenen Lebensraumes zeigt sich auf einem der Bilder noch mal ganz besonders drastisch, weil man die Kleinen mit den vielen Schläuchen, Drähten und Sonden sieht, sowie mit den Überwachungsmonitoren, an die man sie angeschlossen hat. Beim Betrachten des Bildes kann man sich gut vorstellen, wie die Geräte summen, piepsen, und Alarm geben. Der Vortragende erwähnt dabei einen durchschnittlichen Lärmpegel von ca. 82 dB, aber natürlich nicht ohne noch einmal darauf hinzuweisen, dass dies alles nicht die richtigen Geräusche sind, welche das Kind psychisch oder im Sinne einer Stimulierung etwa brauchen würde. Weiter sieht man, dass die Babys bis auf ihre Windeln nackt in dem Inkubator liegen und die Liegeflächen dieser „Apparate“ in manchen Fällen zur Stimulierung der Haut, wie im gezeigten Falle mit einem Lammfell, ausgelegt sind.
Auf einem weiteren Bild sieht man z.B. eine improvisierte, sehr einfallsreiche Konstruktion, bei der ein gewöhnlicher Gummihandschuh unter einem Inkubator geklemmt ist, der eine Schaukelbewegung auf das Gerät überträgt, indem dieser Handschuh von einem kleinen Maschinchen rhythmisch aufgepumpt und wieder entleert wird.
Andere Bilder zeigen, wie die Babys zu Beginn direkt in den Blutkreislauf gefüttert werden und später dann mit einer Sonde über einen Schlauch durch die Nase. Die Bilder machen noch einmal deutlich, wie unpersönlich das alles abläuft, auch wenn bei der Sondenfütterung natürlich die abgepumpte Muttermilch verwendet wird.
Ein letztes Dia zeigt ein Geschwisterchen im Kontakt mit seinem Frühchengeschwister, und der Vortragende macht dabei noch einmal deutlich, dass es sehr viel Sinn macht, auch die Geschwister für einen regelmäßigen Besuch zu zulassen und dass z.B. auch ein Geschwisterkind das Kleine einmal füttern dürfen sollte, damit ein direkter Kontakt erfahren und eine Beziehung aufgebaut werden kann.
Nach dem Zeigen der Dias war der offizielle Teil des Vortrags beendet und es wurde anschließend noch ein wenig Raum gegeben für Nachfragen und eine kurze Diskussion zum Thema.

Dr. hc. phil. W. Ernest Freud, geb. 1914, Enkel Sigmund Freuds, Psycho-analytiker, Erwachsenen- und Kinderanalyse, Schwerpunkt Frühgeborenenforschung. Arbeitete lange Jahre an der Heamstead Child Therapie Clinic mit Anna Freud zusammen, in Deutschland seit 1983 im Rahmen von Supervision und Weiterbildung sowie als Analytiker in freier Praxis tätig. Von der Universität Köln erhielt er 1987 die Ehrendoktorwürde.


Bildquellen

  • W. Ernet Freud: Werner Mikus