Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

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Mein Schwerpunkt Frühgeborenenforschung

Im folgenden möchte ich nun über Beobachtungen erzählen, die ich auf der Frühgeborenen-Intensivstation machen konnte. Womit ich dann auch zu meinem persönlichen Interessenschwerpunkt gekommen bin. Mein Interesse ging sehr weit und richtete sich auch auf die Geburt und Frühgeburt und auf alles, was damit zusammenhängt. Und ich hatte Glück, weil verschiedene Sachen sich so ungefähr um die selbe Zeit ereigneten. Sie haben alle von Leboyer gehört, der dazu rät, das Baby nach der Geburt sofort auf den Mutterleib zu legen – die sanfte Geburt, die auch Mode geworden ist. Sie haben vielleicht auch von Michel Odent (*5) gehört, ein französischer Chirurg, der die Mütter auf jede Weise gebären lässt. Also nicht nur auf die klassische Weise, auf dem Rücken liegend, sondern er hat einen Gebärraum mit einer Riesenmatte, da können die Mütter in jeder Haltung gebären. Denn was wir in den Kliniken hier traditionell machen, ist ja eine ganz künstliche Sache. Und er möchte also, dass die Mütter ganz natürlich gebären und hat auch sehr große Erfolge damit, weil das eben der jeweiligen Tendenz der Mutter entspricht.
Was mich sehr beschäftigt hat, ist die Trennung auf den Frühgeborenen-Intensivstationen. Mutter und Neugeborenes werden eigentlich sehr radikal getrennt. Die Mutter liegt in einer Frauenklinik, das Baby ist in einem Brutkasten auf einer Frühgeborenen-Intensivstation. Und manchmal sind sie gar nicht im selben Gebäude oder am selben Ort, sondern kilometerweit von einander entfernt. Ich habe mich natürlich immer gefragt, wie so ein Trennungserlebnis, und besonders ein Erlebnis eines Aufenthaltes auf einer Frühgeborenen-Intensivstation die weitere Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes beeinflusst.
Ungefähr um dieselbe Zeit entwickelte sich das ganze Wissen um das Neugeborene. Man entdeckte, dass das Neugeborene eine große Anzahl Sachen machen kann, was wir eigentlich nie vermutet hätten. Also ein Neugeborenes kann sehen, hören. Hören kann es schon im Mutterleib. Es kann auch schon etwas sehen im Mutterleib. Es kann also hell und dunkel unterscheiden und unterschiedlich darauf reagieren. Wenn man zu einem Neugeborenen spricht, dann dreht es den Kopf in Richtung des Tones. Wenn man ihm eine Rassel vor die Augen hält, eine rote Rassel, und das so in einem Halbkreis macht, bewegt das Neugeborene den Kopf, um der Rassel, dem Geräusch und der Sicht der Rassel folgen zu können. Ein Neugeborenes hat eine optimale Sicht zu einer Distanz von der Brustwarze zum Gesicht der Mutter. Und das macht auch alles sehr viel Sinn (it makes good sence). Das ist von der Natur so eingerichtet: Wenn man dem Neugeborenen ein Taschentuch aufs Gesicht legt, wehrt es sich und kämpft, bis es das Taschentuch losgeworden ist. Und da gibt es eine ganze Anzahl weiterer Reaktionen.
Ein Kinderarzt in Boston, der auch Analytiker ist, entwickelte eine Testbatterie für die Neugeborenen, im Jahr 1973. Man spricht in Amerika vom „amazing newborn“, dem erstaunlichen Neugeborenen. Weil es so viele Sachen kann. Vielleicht haben einige von ihnen den Film von Condon und Sander (*6) gesehen, wo eine Mutter zu einem Neugeborenen spricht, und sie sagt: „Pretty baby.“ – Was für ein schönes Baby du bist. Und das Neugeborene, das wird in Zeitlupe gezeigt, führt einen Tanz aus in seinen Bewegungen. Er reagiert auf den Ton der Sprache der Mutter. Es ist alles wunderbar synchronisiert. Und sehr eindrucksvoll, wenn man das so sieht.

Frühgeburt, ein Experiment der Natur

Nun etwas über die Frühgeburten. Die Frühgeburt ist eigentlich ein Experiment der Natur. Wir bekommen da etwas zu sehen, außerhalb des postnatalen Mutterleibes, was eigentlich in die Zeit des Vorgeburtlichen gehört. Normalerweise ist das Baby um diese Zeit noch im Mutterleib. Und die müssen ja etwas aufholen in ihrer Entwicklung, das dauert etwas länger. Nun, durch die Erfindung des Ultraschalls können wir in den Mutterleib hineinschauen, und können da den Föt beobachten. Und zwar schon von sehr früh an. Das ist ein faszinierendes Gebiet. Wir sehen, dass der Fötus sich bewegt. Zu einem gewissen Zeitpunkt, wenn er noch klein genug ist, aber schon herumschwimmen kann, tummelt er sich fast wie ein Delphin. Er schwimmt da herum und nimmt verschiedene Stellungen ein. Wir sehen, wie er Daumen lutscht, wie er auch andere Dinge lutscht, mit denen er in Berührung kommt, wie die Nabelschnur. Wir sehen, wie er mit den Händen ausgreift. Er kann die Gebärmutterwand berühren, er kann eigene Körperteile berühren. Er nimmt gewisse Stellungen ein. Es gibt da Aufnahmen von Föten in Yoga-Stellung. Es gibt auch einen Film von einem Boxkampf zwischen Zwillingen, in dem der eine den anderen berührt und der zurückschlägt. Immer mit einer Pause von ein paar Sekunden. Also Sachen, die eigentlich unglaublich klingen, aber diese Beispiele sage ich nur, um zu zeigen, was da alles vor sich geht, während der Zeit vor der Geburt. Anfangs hat er ja relativ viel Platz und dann wächst er und er hat immer weniger Platz. Kann sich also weniger bewegen, und bei der Geburt ist dann da kaum noch Platz im Mutterleib für den großen Föten, der dann nach 9 Monaten hinaus will.

Es gibt da noch ein klassisches Paper von einem Neuseeländer namens Liley (*7), welches bezeichnenderweise die Überschrift trägt: „Der Föt als Persönlichkeit“. Der Föt ist sehr aktiv. Er bestimmt, wie der Hormonhaushalt im Mutterleib aussieht. Er bestimmt auch in welcher Lage er liegen will. Er liegt ja nicht immer nur in der einen Lage. Und er bestimmt, wenn er raus will. Und das hat unser Denken eigentlich sehr beeinflusst – der aktive Föt. Und das kann man auch auf der Frühgeborenen-Intensivstation sehen, dass diese Frühgeborenen eigentlich sehr aktiv sind. Also viel aktiver, als wir erwartet haben. Sie bewegen sich im Brutkasten. Irgendwie schaffen sie es manchmal ganz an die Seite des Brutkastens zu gelangen. Manchmal ziehen sie sich die Schläuche heraus – sie werden am Anfang mit Sonden gefüttert. Sie bewegen sich, sie schreien – nur kann man das kaum hören. Da ist sehr vieles, was vor sich geht, nur wissen wir noch viel zu wenig über ihre Ausdrucksweise. Wir haben noch viel zu wenig beobachtet.
Nun noch etwas, um auf das Vorgeburtliche zurückzugreifen. Wie schaut die Umwelt des Föten psychologisch aus? Und das ist so: wir sprechen von den biologischen Rhythmen der Mutter. Das Gehör und der Gleichgewichtssinn entwickeln sich sehr früh. Der Föt hört den Herzschlag der Mutter. Das ist etwas, das immer da ist. Er hört auch andere Geräusche vom Körper der Mutter, also Geräusche in Magen und Darm, Geräusche des Blutkreislaufs, Geräusche von der Atmung. Und er weiß sicher auch etwas von ihrem Verhaltensstil. Mütter sind ja sehr verschieden. Manche bewegen sich sehr schnell, manche langsam. Manche schlafen viel, manche schlafen wenig. Und es ist dauernd Bewegung da, auch wenn die Mutter schläft. Das ist, so grob gesagt, die Umwelt des Föten. Und deshalb ist es auch so wichtig, dass man das Neugeborene gleich wieder auf den Mutterleib legt, denn dann ist es ja wieder in die biologischen Rhythmen der Mutter eingeschaltet. Und bei den von der Mutter getrennten Frühchen findet das nicht statt. So dass die also jetzt sehr, sehr viel zu bewältigen haben. Im Mutterleib ist andauernde Kontinuität. Dagegen gibt es auf der Frühgeborenen-Intensivstation keine natürliche Kontinuität.


Bildquellen

  • W. Ernet Freud: Werner Mikus