Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung

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Dann ist da noch etwas sehr Wichtiges. Es ist bekannt, dass Frühgeburtlichkeit mehr vorkommt in gewissen Risikogruppen, und das sind besonders die allgemein benachteiligten. Also Mütter, die aus ärmeren Schichten, aus unteren sozialen Schichten kommen, die gewöhnlich wenig Erziehung gehabt haben, die eine Durchschnittsintelligenzquote sehr häufig von 100 oder unter 100 haben, und die häufig krank gewesen sind. Und das geht ja alles Hand in Hand. Und – am wichtigsten wohl – die selber aus gestörten Familien kommen, also die kein gutes Modell von Bemutterung und von Bevaterung gehabt haben. Ich verallgemeinere jetzt etwas, aber das ist so eine Gruppe, die sich immer mehr herausschält. Besonders in Amerika und besonders durch die Teenagerschwangerschaften. Diese Mütter kriegen Kinder zu früh. Sie sind einfach physiologisch und psychologisch noch nicht reif dafür. Und in dieser Gruppe findet man sehr häufig, häufiger als in anderen Bevölkerungsgruppen, Risikogeburten. Also deshalb auch Frühgeburten.
Aber selbst unter den bevorzugten sozialen Schichten kommen Frühgeburten vor. Mütter die alles „richtig“ machen. Die die richtige Nahrung zu sich nehmen, die gut schlafen, die zur Vorsorge kommen, da kann auch eine Risikogeburt vorkommen. 50 % der Frühgeburten sind bisher unerklärt. Und meine Ansicht ist, dass da sehr vieles aus dem psychologischen Sektor mit hineinspielt und psychologische Gründe da eine große Rolle spielen. Und diese Gruppe nun, in der alle diese Nachteile besonders häufig zu finden sind, ist in der Zunahme. Es kommen ja viele Sachen von Amerika rüber, die „Teenage-Schwangerschaft“ ist auch von Amerika gekommen, und ist in Zunahme hier, so dass das schon ein wichtiges Forschungsgebiet ist.
Wenn wir nun in so eine Frühgeborenen-Intensivstation hineinkommen, ist der erste Eindruck schon geräuschmäßig heftig; es ist ein Summen von Monitoren, es sind unheimlich viele Apparaturen. Es sind da viele Brutkästen, viele Drähte und viele Schläuche. Das Ganze ist einem ein bisschen unheimlich. Das ist so der Eindruck, den die Eltern bekommen, wenn sie zum ersten Mal auf dieser Station sind. Glücklicherweise schwächt sich das ab. Wir sprechen von „habituation“, man gewöhnt sich dran. Nach einer Weile ist das wie mit den Bildern an der Wand. Man bemerkt das kaum mehr, obwohl das Ganze weiterläuft. Wir unterscheiden zwischen Frühchen, die im Inkubator sind, und Frühchen, die im offenen Bettchen liegen, und nicht beatmet werden oder Sauerstoff brauchen, sondern Zimmerluft atmen können und auch Zimmertemperatur aushalten.
Allgemein kann man sagen, dass der Fortschritt in der Medizinaltechnik auf den Frühgeborenen-Intensivstationen phänomenal ist. Und das geht auch immer noch so weiter. Auf den Intensivstationen ist das wirklich sehr eindrucksvoll zu beobachten. Und bei dieser schnellen Entwicklung ist die humanitäre Seite, die menschliche Seite zurückgeblieben.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Jahre 1967, also in den 60er Jahren, gab es eine Intensivstation ohne Brutkästen in Holland, in Groningen. Und das war sehr gut, weil die Mütter dort dabei sein konnten. Und sie konnten ihre Babys sogar halten und mit ihren Babys zusammen sein. Und dann, durch den Fortschritt in der Technik, konnte man immer leichtere und immer frühgeborenere retten, dadurch, dass man Inkubatoren hatte. Es gab aber ein Problem: Diese leichteren Babys brauchten eine höhere Temperatur, um zu überleben. Und diese höhere Temperatur, das ging dann so auf 34-36 Grad, konnte das Personal und konnten die Eltern nicht mehr aushalten. Und dadurch wurden also die Frühchen getrennt von ihren Müttern.
Also Fortschritt in der Technik, aber Stehenbleiben oder Rückschritt in der Humanität. Das ist eine finale Tendenz. Und je leichter diese Babys sind, und je früher geboren, desto anfälliger sind sie für Infektionen. Und man hatte da große Angst – zum Teil berechtigt. Die Eltern dürfen ihre Babys nicht besuchen, auf den Intensivstationen. Sie können die Frühchen höchstens durch eine Glaswand sehen. Das bedeutet für gewöhnlich zu viel Distanz und ist natürlich sehr schmerzlich für die Eltern, und ist auf keinen Fall das richtige.

Erkenntnisse aus den eigenen Beobachtungen

Irgendwann im Laufe meiner vie len Beobachtungen hatte ich den Wunsch, meine Eindrücke ein bisschen zu sortieren und aufzuschreiben. Also habe ich mich gefragt: „Was sind die basischen Bedürfnisse (also die Grundbedürfnisse) der Mutter und was sind die basischen Bedürfnisse des Frühchens?“ Ich dachte, wenn ich mit den Bedürfnissen anfange, muss ich das eigentlich irgendwie richtig sehen.
Zusammenfassend kann man sagen: Die basischen Bedürfnisse der Mütter sind in erster Linie Kontakt, Kontinuität und Zusammensein. Die Mütter wollen im allgemeinen mit ihrem Baby zusammen sein. Und das vielleicht besonders mit dem Frühgeborenen, um zu sehen, wie es vorankommt. Was unbedingt nötig ist, ist Feedback. Das Baby macht normalerweise irgendetwas und die Mutter reagiert darauf. Das Baby reagiert dann wieder auf die Reaktion der Mutter. Es ist ein dauerndes Spiel zwischen den beiden hin und her.
Dann möchten die Mütter wissen, was es bedeutet, wie das Frühchen aussieht. Ein Beispiel, was ich beobachteten konnte: das Frühchen hat einen Blutfleck am Körper. Das ist überhaupt nichts Schlimmes. Es ist nur, weil es nach der Geburt an dieser Stelle nicht richtig abgewaschen wurde. Die Mutter kommt rein – heutzutage hat man ja Besuch – und sieht das; und bekommt gleich Ängste: Was ist dieser Blutfleck, was stimmt da nicht? Also: Sie will eine Erklärung für das Aussehen ihres Babys haben.
Erklärungen zu medizinischen Eingriffen geben, das ist eine zweischneidige Sache. Diese Mütter sind selbst Frühgeborene; frühgeborene Mütter. Sie haben den Ablauf der Schwangerschaft nicht bis zum Ende durchgemacht. Und sie sind traumatisiert durch die Geburt. Und traumatisierte Menschen sind gewöhnlich voreingenommen. Mit ihren Ängsten hören sie nicht besonders gut zu. Und für manche Mütter, wenn man ihnen erklärt, was gerade mit ihrem Baby gemacht worden ist (welcher Eingriff), geht das zu dem einen Ohr rein, und zu dem anderen wieder raus. Und das ist häufig so. Wichtig ist, ihnen zu zeigen, dass man sie versteht. Auf Englisch: one makes sympathetic noises. Man macht Geräusche, die das Mitgefühl ausdrücken. Das ist häufig viel wichtiger als zu sagen, da war der und der medizinische Eingriff. Das ist aber auch sehr unterschiedlich. Manche Mütter wollen genau wissen, was mit ihrem Frühchen gemacht wurde. Die anderen sagen, das kann ich jetzt noch gar nicht aufnehmen. Ich möchte nur wissen, dass das Beste mit dem Frühchen geschieht.


Bildquellen

  • W. Ernet Freud: Werner Mikus