Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

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Erster Versuch und Ratlosigkeit

Die Schüler machten sich als erstes mittels einer anonymen Karteikar-tenab­frage bewusst, welche Probleme im Raume standen. Die Präsentation der Ergebnisse auf mehreren Wandplakaten in der nächsten Stunde zeigte, dass viele Störungen mit Grenzverletzungen (Sachen anderer wegnehmen oder zerstören, andere dauernd ärgern, beschimpfen, beleidigen) und fehlendem Raum im materiellen und interpersonellen Sinne (fehlender Platz für Garderobe und Taschen, eintönige und unpersönliche Einrichtung des Klassenraumes, von anderen bedrängt, abgelenkt und gestört werden etc.) zu tun hatten. Das Thema ‘Sich-gegenseitig-den-Raum-nehmen’ bzw. ‘Mehr-Raum-benötigen’ wurde schon am Anfang des Prozesses deutlich, insbesondere die gegenseitige Missachtung (von Eigentum und Persön­lichkeitsrechten) stand im Mittelpunkt. Die Ergebnisse ihrer eigenen Um­frage kamen bei den Schülern sehr unterschiedlich an. Bei einigen machte sich eine resignative Haltung des „Nichts‑ daran‑ändern-könnens“ breit, andere versuchten Deutungen bezüglich der Motive der störenden Schü­ler, und wiederum andere machten konkrete Vorschläge zur Lösung der Probleme. Die insgesamt aber eher ratlose Stimmung schien sich auch auf den Gruppenprozess zu übertragen. Dies zeigten Äußerungen wie „Und was soll das jetzt alles?“ oder „Jetzt haben wir darüber geredet, und nun?“. Wie von kleinen Kindern schienen die Blicke auf mich als ‘Klassenmutti’ gerichtet zu sein, mit der nicht ausgesprochenen Botschaft: Hilf uns, tu etwas für uns, sorge dich um uns! Es war aber auch deutlich, dass das Reden über die Störungen genauso wenig half wie purer Aktionismus, was sonst bei Störungen innerhalb des Schulalltages häufig anzutreffen ist.
Es zeigte sich jedoch, dass am Ende der folgenden Sitzungen viele Schü­ler – anstatt wie sonst üblich, möglichst schnell das Schulgelände zu ver­lassen – noch länger blieben und sich über ihre Erfahrungen bezüglich der Gruppe austauschten. Es schien, als brauchten die Schüler vielmehr Raum für ihre eigenen Bedürfnisse und für den Austausch ihrer eigenen Befindlichkeiten. Dabei kam mir die Idee, die Äußerung eines Schülers ernst zu nehmen, welche zuvor von vielen anderen z.T. mit Zustimmung, z.T. mit Gelächter bedacht worden war. Der Schüler äußerte an einer Stelle: „Wenn ich das tun will, was ich möchte, muss ich auf den Mars fliegen, nur dann hätte ich meine Ruhe und meine Welt.“

Ein neuer, regressionsbetonter Arbeitsstil

Die Schüler sollten Gelegenheit erhalten, ihre Wunschträume/Wunsch-Räume produktiv zu gestalten. Ich schlug ihnen vor, sich in die Lage einer Forschergruppe zu versetzen, die eine längere Zeit in einem Raumschiff oder einer Raumstation miteinander leben und arbeiten müsste. Sie sollten ein Bild malen, wie sie das Innere ihres Raumschiffes, ihrer Station gestalten würden. Die Reaktion war überraschend positiv, die eher re­signative Stimmung schien schnell vergessen, viele machten sich schnell und akribisch an die Arbeit, andere brauchten kleinere Hilfen bezüglich der zeichnerischen Umsetzung. Zwei Schüler, die in der Klasse eine eher do­minante Rolle einnehmen, wollten den anderen aber die Bildgestaltung madig machen bzw. von ihrem eigenen Nicht-Können oder Nicht-Wollen ablenken. Ihre Kommentare erreichten aber überraschenderweise nicht die sonst übliche Resonanz. Einige Schüler versuchten im Gegenteil, sie auch dafür zu gewinnen, ein Bild zu machen: „Hier kannst du doch mal machen, was du gut findest.“ Viele vertieften sich so in die Arbeit bzw. beschäftigten sich so mit Details, dass sie gerne mehr Zeit haben wollten. Am Ende standen viele beieinander und zeigten sich ihre Bilder.
Dieses Sich-gegen­seitig-beachten und das Würdigen der Werke der anderen war eine neue Erfahrung. Das Mitteilungsbedürfnis war groß. Eine fast heitere Stimmung konnte beobachtet werden. Für mich als Berater waren dies Zeichen der Ermutigung für unser Projekt, hatte ich doch zu Anfang einiges „Bauchgrimmen“ gehabt. Zum einen war ich nicht sicher, ob ein entwick­lungstherapeutischer Prozess mit so einer großen Gruppe kontrolliert durchzuführen ist, zum anderen war mir nicht klar, wie die entwicklungs­therapeutisch orientierten Stunden innerhalb des normalen Schulalltags wirken würden. Dass der gerade angestoßene Prozess die Schüler be­schäftigte und ihnen der Raum zur Artikulation ihrer Bedürfnisse wichtig war, merkte ich auch daran, dass sie unter der Woche immer wieder nachfragten, ob wir auch wirklich mit den Gruppenstunden weitermachen würden, als ob sie testen wollten, ob unser ‘Vertrag’ auch meinerseits ein­gehalten würde. Die von den Schülern tief erlebte Malstunde zeigte, dass die von vielen nach außen gezeigte Härte bzw. Größe nur die eine Seite der Medaille ist, die Kehrseite (das Sich-klein-fühlen-dürfen, eigenen Träumen nachhängen etc.) aber zu wenig beachtet und bedient wurde. Im Sinne einer Therapie ist den Schülern eine Regression möglich geworden, von deren unterster Position aus sie erneut wachsen und reifen konnten.


Bildquellen

  • Gorilla: Anonym