Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

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Das nun folgende Gespräch konzentrierte sich analog zu diesem Vorfall auf das gegenseitige Raum-nehmen und ausgrenzen, spitzte sich jedoch langsam auf einen ganz bestimmten Punkt zu. Nur langsam wagten sich die Schüler an einen wunden Punkt heran, der bislang noch keine Beach­tung gefunden hatte. Es ging um das besondere „Quäk-Geräusch“, welches von einigen Schü­lern verwendet wurde, um andere in der Klasse oder während des Unter­richts bloßzustellen bzw. negativ zu titulieren. Mir schien, dass in diesem Geräusch die anderen genannten Störungen ‘symbolisch fokussiert’ wurden und ich beschloss, diesen Punkt mit den Schülern zu vertiefen.
Einige Schüler verteidigten die Äußerung des Geräusches als Witz, der nicht ernst gemeint sei, andere äußerten aber das Gefühl, damit herunter­gemacht zu werden. Es wurde deutlich, dass die ‘Geräuschemacher’ selbst am wenigsten duldeten, wenn sie mit diesem Quäken bedacht wür­den, also sei etwas sehr Negatives damit verbunden. Mir fiel auf, dass sich während des Gesprächskreises kaum ein Mädchen zu Wort gemeldet hatte. Auch die türkischen Schüler, die sehr häufig an den Störungen beteiligt waren, waren kaum zu einer Stellungnahme zu bewegen. Sie meinten, sie wüssten nichts zu sagen, zeigten gleichzeitig aber durch ein verunsich-er­tes Grinsen ein offensichtliches Unbehagen daran, dass in der Gruppe darüber gesprochen wurde.
Im Verlaufe des Gespräches kamen aber immer mehr Stimmen zu Wort, die sich sonst weniger meldeten, der Tenor war, dass dieses Geräusch von vielen als ‘Negativzeichen’ empfunden und nur selten als Spaß unter Freunden benutzt wird. Das Geräusch selbst war plötzlich ganz zum Mit­telpunkt geworden, es wurde sozusagen selber auf die Bühne gestellt. Das provozierte wohl einige, die meinten, so ein Gespräch könne daran so­wieso nichts ändern. Einer der Schüler, der sich schon zu Beginn massiv gegen einen Gesprächskreis gewandt hatte, brachte die geänderte Be­handlung des Problems auf den Punkt, indem er auf die Bemerkung, die Klasse sei doch zusammengekommen, um mal alles zur Sprache zu brin­gen, die Frage stellte: Sollen wir hier denn alle therapiert werden?“ Hier zeigte sich die aggressive Seite der Entwicklung. Alle Mitglieder der Grup­pen sollten mehr Spielräume für die Äußerung ihrer Bedürfnisse erhalten, als es sonst üblich bzw. möglich war. Dass dies auch im Moment eher ag­gressive Äußerungen sein würden, war nun in der Sitzrunde deutlich gewor­den.
Eine durch das Gespräch veränderte Wahrnehmung zeigte sich interes­santerweise bei der Umbauphase für die nächste Stunde: Ein Schüler machte spontan und unbedacht das ‘Quäken’, wurde aber sofort von eini­gen Schülern böse bzw. ungläubig angeguckt, worauf er sich auf den Mund schlug und lachte.

Ungewöhnliche Dinge passieren

In der Folgestunde wurden die Schüler allein in den Raum mit dem fertigen Sitzkreis gelassen. Ich selber platzierte mich auf einen der weniger auffäl­ligen Plätze. Thema der Stunde war der bevorstehende Wandertag, für den es ein Ziel zu finden gab. Ein Schüler, aufgrund seiner Korpulenz in einer Außen­seiterrolle ist, meldete sich ganz eifrig und benannte einige Vorschläge, die er von anderen gehört bzw. selber zu machen hatte. Sein Redebeitrag wurde nicht wie sonst mit dem Quäken bedacht, sondern es gab ablehnende Kommentare zu den Vorschlägen. Es fanden einige Nebengespräche statt, die beiden ‘Clowns’ der Klasse lachten wie immer, worauf aber niemand einging. Alle redeten durcheinander, bis plötzlich jener korpulente Schüler laut und deutlich die Initiative ergriff und um Ruhe bat, da doch wohl alle einen Wandertag machen wollten. Dieses ungewohnte Rollenspiel (‘Au­ßenseiter bestimmt die gesamte Klasse.’) wurde ohne besondere Reak­tion akzeptiert, der sonst eher schüchterne Schüler wuchs in wenigen Mi­nuten in die Rolle des Moderators, ohne dass dies so festgelegt worden wäre. Keiner der gemachten Vorschläge fand jedoch eine Mehrheit, in der Gruppe machten sich erste Auflösungserscheinungen in Form von Neben­gesprächen, Herumdösen, Albernheiten breit.
Um die Gruppendynamik wieder anzufachen, machte ich einen plötzlichen Schnitt: Alle Schüler sollten so bleiben wie sie gerade sind, bewegungslos sollten sie ihre derzeitige Haltung, Mimik und Gestik beibehalten. Da die meisten Schüler dies aus anderen Unterrichtsstunden von mir kannten, klappte dieses ‘Einfrierspiel’ gut. Eine Schülerin wurde aufgefordert, zu beschrei­ben, was momentan in der Gruppe los sei. Auf witzige Weise kommen­tierte sie die teils sehr ausgefallene Haltung der Schüler. Auf meine Frage, ob die Schüler eine Idee hätten, warum die Klasse plötzlich so ‘entgleist’ sei, bemerkte jener korpulente Moderator, dass einige vielleicht so von dem Übernachtungsvorschlag ablenken wollten, weil sie sich sicher schämten. Die kleinste Schülerin schien für diese Äußerung dankbar zu sein, sie sagte, dass sie genau aus diesem Grund nicht mitmachen wolle. Sie habe ein ungutes Gefühl, mit den Jungen ohne klare Trennbereiche (z.B. fürs Umziehen) zu übernachten. Dafür wurde von vielen Verständnis gezeigt, ohne die sonst üblichen Bemerkungen. Auch hier zeigte sich wie­der ein Ansatz der entdeckten Wertschätzung des anderen. Die Gefühle der Mitschüler fanden plötzlich Raum und Beachtung, auch wenn sie per­sönlich durchaus nicht immer geteilt wurden.
Die Klassenstunde schien den Schülern ein Forum zu bieten, sich ohne den sonst üblichen Rollenzwang äußern zu können. Es war Raum für den freien Einfall, was sich sofort positiv auf die im Raum stehende Wander­fahrt-Diskussion auszubreiten schien. Urplötzlich stand der Vorschlag ‘Fahrt nach Köln mit Besuch des Doms und des Schokoladenmuseums’ im Raum, der in ungewöhnlich schneller Form von der Mehrheit gebilligt wurde.
Gegen Ende der Sitzung nutzte ich die gute Gesprächsbasis, um die Schüler mit dem Gruppenprozess noch einmal in Kontakt zu brin­gen. Sie sollten die vorangegangene Diskussion bewerten, insbe­sondere im Blick auf die Situation der Klasse. Hauptpunkt war die starre Sitzordnung, die streng getrennt nach Jungen und Mädchen unterschied. Die Jungen bemängelten die geringe Bereitschaft der Mädchen, sich an den Diskussionen zu beteiligen, die Mädchen wiederum äußerten, dass die Jungen ihnen kaum Gelegenheit dazu geben würden. Es wurde be­schlossen, die nächste Stunde in neuer „Ordnung“ zu beginnen und das Gespräch ausgewogener zu gestalten.
In der anschließenden Sitzung wollte ich der Gruppe Raum geben für ihre Vorstellungen von der bevorstehenden Klassenfahrt nach Norderney.
Es entwickelte sich jedoch in dieser Sitzung überhaupt kein offenes Ge­spräch, im Gegenteil. Alte Verhaltensweisen wie das Nicht-Ausredenlas­sen sowie das Stören anderer Beiträge gewannen erneut die Oberhand. Die Verunsicherung wurde auch inhaltlich deutlich: Auf der einen Seite verlangten die Schüler von mir für die Klassenfahrt Vorgaben und Regeln, auf der anderen Seite war das wichtigste Ziel „soviel Freiheit wie möglich“ zu erhalten.


Bildquellen

  • Gorilla: Anonym