Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

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Beziehungserfahrungen im Spiel

Nach der Erfahrung, sich mit ihren Träumen und Wünschen auseinan­dergesetzt zu haben, plante ich für die nächste Stunde ein Vor­haben, bei dem die Schüler sich selbst innerhalb einer Gruppe erleben und ihre eigenen Vorstellungen anderen vermitteln sollten.
Dazu wählte ich das NASA-Spiel „Die Reise zum Mond“ aus, bei dem sich drei oder vier Mitglieder freiwillig zusammenfinden, um als Expeditions­gruppe ein freiwillig gewähltes Expeditionsziel (Reise zum Mond, in die Sahara, auf eine Insel im Pazifik oder in die Antarktis) zu erreichen. Vorgabe war, dass alle Entscheidungen von allen Teilnehmern mitgetra­gen werden mussten. Jede Gruppe erhielt ein Arbeitsblatt, auf dem 30 Dinge aufgelistet waren. Für die dreiwöchige Expedition fernab jeglicher Zivilisation, musste jede Gruppe fünf der aufgelisteten Dinge aussuchen, die für sie unabdingbar waren. Dazu musste die Gruppe einen ‘Commander’ festlegen. Weitere Vorgabe war, dass alle Entscheidungen von allen Teilnehmern mitgetragen werden mussten.
Die Gruppenfindung gelang erstaunlich ‘gesittet’. Auch neue Zusammen­setzungen fanden sich. Der anschließend einsetzende Diskussions­pro-zess gelang gut, einige Gruppen schafften die Wahl des Commanders und manche Material-Wahl durch Losentscheid. Insgesamt jedoch waren in den meisten Gruppen rege Debatten sowie detaillierte Abstim­mungen zu beobachten. Insbesondere schienen die Schüler die Aufgabe als Herausforderung für ihre jeweilige Gruppe angenommen zu haben. Einigen Schülern wurde der Wert einer Kleingruppe und das gemeinsame Arbeiten, auf eine neue Weise bewusst. Auch die Ergebnisse der anderen wurden sachlich und objektiv bewertet, und nicht wie sonst häufig „heruntergemacht“, weil ihnen der Schü­ler oder die Schülerin nicht passte.
Die Arbeit in den z.T. neu entstandenen Gruppen schien die Möglichkeit zu eröffnen, Zwischenbeziehungen zu beleben bzw. neu anzustoßen.
Zugleich merkte ich an dieser Stelle des Prozesses auch bei mir eine neue Haltung und ein neues Gefühl der Klasse gegenüber. Mir wurde bewusst, dass hier weniger mein bisheriger, auf Ordnung ausgerichteter Stil ange­bracht war, als der des interessierten Beobachters. Dies wirkte auf mich entlastend und gab mir zugleich Raum und Gelegenheit, den Schülern auch einen Teil meiner Gefühle zu vermitteln. Ich verspürte Stolz über den gelingenden Gruppenprozess und zugleich Zufriedenheit und Wärme im Raum der Klasse selber.

Peinliches darf wahrgenommen werden

Nachdem die bisherigen Sitzungen in Gruppentisch-Formation abgehalten worden waren, beschloss ich, in der Folgesitzung durch einen Sitzkreis eine neue Erfahrung des Miteinanders einzuleiten. Ausnahmsweise hatte ich den Stuhlkreis vorab allein eingerichtet. Die Schüler betraten den schon mit dem Sitzkreis vorbereiteten Raum, blieben zunächst ratlos oder verwundert stehen oder setzten sich hinter die vorbereitete Stuhlreihe. Die meisten hatten die Mäntel anbehalten und die Taschen auf dem Schoß. Hier schien sich die Situation der Gruppe wider­zuspiegeln, die wie zum Schutz ihrer Persönlichkeit alles anbehielt bzw. einen geschützten Platz für ihre persönlichen Dinge vermisste. Es bedurfte einiger Diskussion und Überzeugungskraft, um die Stunde – entledigt allen Beiwerkes und sozusagen offen für das Gespräch und die Gesprächs-part­ner – beginnen zu können.
Die neue Konstellation erzeugte eine erwar­tungsvolle Ruhe, die von mir dazu genutzt wurde, noch einmal die Aus­gangsproblematik (die Störungen in der Gruppe und die ‘Raumpro-blema­tik’) vor Augen zu führen. Nach der Beschäftigung in Gruppen sollte nun im Kreis der ganzen Klasse die Problematik erörtert werden. Noch bevor sich Schüler dazu äußern konnten, fand eine Störung des Prozesses statt: Zwei Schüler tuschelten ständig und machten sich offensichtlich über die unge­wohnte Situation (Sitzkreis, Stille) lustig. Auf Nachfrage, ob sie etwas zu der Situation der Klasse äußern wollten, steigerte sich ihr störendes Ver­halten noch. Ungewollt führten sie den anderen die Thematik überdeutlich vor Augen, die in der Klasse vorherrschte: anderen keinen Platz zur Entfal­tung geben; sich selbst so viel Raum nehmen, dass andere ‘erdrückt’ bzw. ausgegrenzt wurden. Einer der beiden Schüler war erst Anfang des Schuljahres in die Klasse gekommen, er fiel seitdem durch massive per­sönliche Probleme auf (Autoritätsprobleme mit den Eltern, Hypermotorik, Kon­zentrationsmängel etc.). Mit diesem Verhalten kam er den Wünschen der „chaotischen“ Klasse sehr entgegen. Jetzt, da die Gesamtgruppe ein verträgliches Miteinander und Sich-gegen­seitig-achten anstrebte, fiel der auffällige Schüler sofort aus dem Rahmen. Seine „Späße“ waren nicht mehr komisch, sondern störend. Der Junge, der bisher seine persönlichen Probleme hinter den Gruppenproblemen gut verstecken konnte, stand plötzlich alleingelassen „im Regen“. Durch seine Störungen wollte er wohl den sich verändernden Gruppenprozess torpe­dieren, doch nur ein Schüler machte dabei mit, die anderen zeigten, dass sie sich nicht von diesem Verhalten beeinflussen lassen wollten. Statt wie sonst im Unterricht üblich, wurden die Störungen nicht direkt sanktioniert, sondern beiden Schülern wurde freigestellt, für die Zeit des Kreisgespräches auf dem Schulhof spazieren zu gehen. Dagegen protes­tierten sie heftig, d.h. sie wollten sich wohl nicht selbst aus dem Kreis aus­schließen. Nachdem sie aber das nun beginnende Gespräch in ihre Bah­nen lenken wollten und bei ihren Störungen blieben, wurden sie ‘Spazieren geschickt’, was die meisten Schüler, besonders die eher schüchternen, als Wohltat empfanden.


Bildquellen

  • Gorilla: Anonym