Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

Der interne Coach – Das Experiment eines Klassenlehrers

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Ein neues Wir-Gefühl

Die Umsetzung der Pläne gelang den Gruppen erstaunlich gut, immer wieder wurde aber auch die Beratung genutzt. Die angesetzte Zeit war jedoch für alle Gruppen zu knapp, diese stellten bei dem Projektleiter gut begründete ‘Fristverlängerungen’. Dazu mussten die Schüler die Schwierigkeiten des Gruppenprozesses beschreiben, die zu der nicht optimalen Nutzung der Zeit geführt hatten. Auch in dieser Phase zeigte sich, dass die Teilnahme an einem zwar fiktiven, aber der Realität angepassten Projekt sich sehr moti­vierend auswirkte. Das Außergewöhnliche des Prozesses förderte in den Gruppen auch ein gut zu beobachtendes ‘Wir-Gefühl’: Wir sind für unsere Brücke verantwortlich. Es bildete sich eine Identifikation mit der gemein­samen Aufgabe heraus, selbst in der Königinnen-Gruppe.
Als während des Arbeitsprozesses zufällig eine Lehrerkollegin unerwartet den Raum betrat und interessiert wissen wollte, zu welchem Fach bzw. zu welcher Art von Unterricht die Arbeit der Schüler gehören würde, fragten die Schüler mich anschließend besorgt danach, ob ich bei der Schulleitung keine Schwierigkeiten bekommen würde, wenn ich „solche Dinge“ mit ih­nen machen würde. Das war ein gutes und zugleich merkwürdiges Gefühl, fühlte ich mich doch auf eine neue Art anerkannt.
Die abschließende Prämierung der besten Brücken durch eine Schülerjury (jede Gruppe stellte ein Jury-Mitglied.) und die Reflexion des Grup-penpro­zesses mit Blick auf den bevorstehenden Umzug in einen neuen Klassen­raum standen im Mittelpunkt der letzten Sitzung. Da die Stunde zu einem anderen Termin als üblich stattfinden musste, war aufgrund eines Missver­ständnisses die Gruppe der türkischen Schüler nicht anwesend. Im ersten Teil der Stunde machte sich die gewählte bzw. ernannte Jury an die Arbeit, die Brücken als Ergebnisse des Projektes nach verschiedenen Kriterien zu bewerten. Alle Gruppen waren nicht ganz fertig geworden, doch alle Brü­cken waren in einem vorzeigbaren Zustand, so dass quasi Richtfest gefei­ert werden konnte.
Mit der restlichen Gruppe fand ein Gespräch über den neuen Klassenraum statt: Die Schüler machten – teilweise die Kritik aus der ersten Gruppensit­zung aufgreifend – verschiedenste Vorschläge, wie der Raum nach ihren Vorstellungen zu gestalten sei. Auch wurde die Möglichkeit einer neuen Sitzordnung erörtert. Um den Schülern einen Impuls zu geben, machte ich den Vorschlag, hier und jetzt experimentell eine solche neue Ordnung auszuprobieren, um die neue Struktur sozusagen einmal durchzuschme­cken und anzufühlen. Die Schüler stimmten spontan zu. Die Klasse wurde auf den Flur geschickt, danach durfte je ein Schüler bzw. abwechselnd eine Schülerin den Klassenraum betreten und sich einen Platz aussuchen. Den Eintretenden erwartete also ein neues Gefüge, in dem er seinen Platz wählen musste. Die Jury-Mitglieder hatten inzwischen zu Ende beraten und ließen sich gut auf die gerade begonnene Entwicklung ein. Nach dem Ende der ‘Besetzung’ hatten die Schüler Gelegenheit, sich zu ihrer spontan ergebenen Ordnung zu äußern: Es fiel auf, dass sehr viele Schüler ganz anders saßen als sonst und dass sich sogar oftmals Mädchen neben Jun­gen eingefunden hatten, was bisher immer von beiden Seiten strikt abge­lehnt worden war. Da alle mit dem Ergebnis wie mit der Methode ganz zufrieden waren, wurde beschlossen, im neuen Schuljahr sich eine neue Sitzordnung ‘ergeben zu lassen’. Dagegen protestierte plötzlich ein Schü­ler, insbesondere mit dem Verweis, dass er ja vielleicht dann neben einem Mädchen sitzen müsse. Die Bemerkung einiger Jungen, dass die Mädchen ihrer Klasse doch „eigentlich alle in Ordnung“ seien, nahm ihm jedoch den Wind aus den Segeln, zumal er keine weiteren Unterstützer fand. Offen­sichtlich zeigte das Sitzordnungs-Experiment und die ungewohnte öffentli­che Solidarität mit den Mädchen, dass es der Gruppe gut tat, auch über ihre pubertätsbedingten Belange zu sprechen. Wo früher nur die harten Fronten (Jungen gegen Mädchen, feste Cliquen gegeneinander) Halt ga­ben, schienen jetzt auch der Umgang von Jungen und Mädchen sowie sich eher zufällig ergebende Kleingruppen Halt zu geben. Neben der immer noch benötigten festen Struktur bekamen die Schüler Spielräume, neue Strukturen auszuprobieren. Die ansonsten gelungene Stunde blieb mit dem Makel behaftet, dass von dem wichtigen Prozess (neue Sitzordnung und Prämierung der Brücken) die Gruppe der türkischen Schüler ausge­schlossen waren. Das Thema der mangelnden Wertschätzung war – auch wenn es organisatorisch bedingt war – wieder einmal in diesem Bild spür­bar geworden. Die übrigen Schüler selbst bemerkten dies jedoch und ver­gaben für diese Gruppe und ihre Brücke einen Sonderpreis. Mit dem Ab­schluss des Brückenprozesses und dem Ausblick auf die neue Klassen­ordnung war das vereinbarte Ende des institutionalisierten Gruppenpro­zesses erreicht, es folgte die Klassenfahrt nach Norderney.


Bildquellen

  • Gorilla: Anonym