Psychologe auf Bewährung – Zum Problem des Psychologe-Seins im Strafvollzug

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Spaltung und Psychodynamik im Kriminellen

Täter und Opfer befinden sich in einer Verletzungsbeziehung. Sie ist ge­kenn­zeichnet durch die besondere Art der zwischenmenschlichen Entwer­tung, wel­che in jedem ausgeführten Verbrechen steckt. Federn (1992) stellt fest, dass jede gängige Form von Kriminalität auch im Rahmen des Legalen lebbar sei: Gegen andere körperlich vorzugehen könnte bei Polizei und Mi­litär unterge­bracht werden, Beleidigungen und Betrug bei Politikern und Journalisten, Tötungswünsche bei Ärzten, Gewaltabsichten bei Sportlern wie Boxern oder Fechtern. Hingegen weist der Kriminelle als Dissozialer ei­ne gespaltene Ich-Struktur auf, bei der die Angleichungsleistung an ein lega­les Leben (was nicht mit „moralisch“ gleichzusetzen ist) verfehlt wurde. Federn (zit. n. Daniel 1992) spricht hier von einer Anpassungsstörung des Ichs an die Legalität. Ein Krimi­neller verspürt nicht die Würde, das Dasein bzw. die lebendige Existenz ande­rer. Die strukturelle Spaltung zeigt sich dadurch, dass der Kriminelle sich nur selbst als vollwertigen Menschen sieht, nicht aber das Opfer, in dem er lediglich eine Quelle zu seiner Lustbefriedigung sieht.

Fast immer werden in der kriminellen Deklassierung von Mitmenschen eige­ne Entwertungserfahrungen angesprochen, ohne dass der Kriminelle aber einen irgendwie auseinander-setzungstauglichen Kontakt zu dieser Erfahrung entwi­ckelt hätte. Die erfahrene Entwertung wird dagegen unbe-wusst in der kriminel­len Handlung mit dem Opfer inszeniert. Der Täter deu­tet auf diese Weise ein ihm vollkommen unbewusstes Beziehungspro-blem an, welches einer intensiven bezie­hungsstrukturellen Bearbeitung bedürfte, wenn es sich nicht in Wiederholungen am Leben halten soll. Eine solche Art von Spaltung kann sich auch in einer ganzen Gruppe einstellen. Finden sich Individuen zusammen, die gemeinsam in kriminellen In-szenierungen ihre ureigenen Insuf-fizienzen zu bewältigen su­chen, kann sich ein auf Spaltung ausgerichtetes Gruppen-Ich entwickeln: Menschen außerhalb der eigenen Gruppennorm werden dann als „Nicht-­Menschen“ (Untermenschen) angesehen, über die nach Belieben, wie mit ei­ner Sache, verfügt werden kann. Solch eine auf Entwertung zielende Spal­tung der Ich-Struktur kann gleichwohl Kleingruppen und Großgruppen, ja sogar ein ganzes Volk in unheilvoller Weise kennzeichnen. Z.B. die im Na­tional-sozialismus propagierte Klassifizierung der Menschen in Arier und der zur Vernichtung preisgegebenen Nicht-Arier (wie Juden, Zigeuner) dechif­friert den Hitlerstaat als ein kriminelles Regime.

Provokation und Herausforderung der Kriminalität

Die psychischen Grundprobleme der Delinquenz unterscheiden sich nicht we­sentlich von vielen anderen, eben-falls auf einer Spaltung aufgebauten Seelen­störungen. Die kriminelle Variante einer solchen gelebten Spaltung ist jedoch viel mehr ge­fürchtet, als es beispielsweise der Alkoholismus oder die Tabletten­sucht in unserer Gesellschaft sind.

Nietzsche sieht im Verbrechen eine Art von Aufstand gegen die tragende Ord­nung des (im weitesten Sinne) gesellschaftlichen Lebens. Die Gesell­schaft versucht dagegen mithilfe von Justiz, Polizei und Inhaftierung in der Lage zu sein, diesen Aufstand niederzuhalten. Es geht ihr darum, die Betreffenden dingfest zu machen und ihnen, soweit sie es zulassen, ihre Macht zu nehmen. Eine Nie­derwerfung gelingt aber nur von Fall zu Fall, und sie muss auch nicht unbedingt mit einer Ausübung von Rache verbunden sein. Lässt man sich vom Bild eines Kampfes gegen Aufständische leiten, so erscheint die Idee einer Umerziehung eher abwegig, besonders wenn von einer mehrjährigen und intensiven Umkultivierungsanstrengung nicht ausgegangen werden kann.

Der Wunsch nach einem gesellschaftlichen Leben, welches frei sein würde von Verbrechen, ist sehr groß. Wenn jedoch aus diesem natürlichen Wunsch her­aus der Anspruch (die Fiktion) erwächst, man könne tatsächlich eine verbre­chenslose Welt erschaffen, wenn wir nur konsequent das Verbrechen zu be­seitigen versuchten, so wären wir einem neurotischem Sicher-heitsstreben auf­gesessen und liefen Ge­fahr, blinden Aktivismus zu betreiben. Und solch ein Aktivismus könnte auch das Konzept der Resozialisierung mit einbe­ziehen: Zu dem repressiven und stra­fenden Bemühen träte so noch ein weiteres Konzept zur Beseitigung des Ver­brechens hinzu, nämlich das der Errettung aller Gestrauchelten durch irgendeine Form von Therapie. Strafen­des Bemühen und Errettung stünden dann im Dienste der gleichen Fiktion, nämlich einer Fiktion von einer Welt, die frei ist von Delinquenz.

Vermutlich steckt hinter solch einer sichernden Fiktion ein kaum zu ertra­gen­des Ohnmachtsgefühl. Am deutlichsten empfinden es diejenigen, welche selbst Opfer eines Verbrechens geworden sind. „Das darf doch nicht wahr sein“, ent­fährt es unwillkürlich diesen Betroffenen. Dass es aber doch wahr ist, wird unerträglich, und der Ruf nach Beseitigung dieses Zustands ist verständlich.

Wir können dieses Ohnmachtsgefühl der kriminellen Tat gegenüber ruhig zu­lassen und gleichzeitig versu­chen, die verführerische Fiktion von einer verbrechenslosen Welt in einen angemesseneren Umgang mit der Kriminalität umzuwandeln. Den Aufstand gegen die Ordnung bringen wir nicht raus aus der Welt! Es kann uns nur von Fall zu Fall gelingen. Wir sollten uns aber nicht an dem Einzelnen dafür rä­chen, dass es uns im Ganzen nicht gelingen kann.


Bildquellen

  • GB: Gerhard Böttcher