Psychologe auf Bewährung – Zum Problem des Psychologe-Seins im Strafvollzug
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Jetzt gibt es kein Zurück mehr
Der nächste Morgen kam und ich hatte meine Entscheidung getroffen: Ich wollte mit Zickelmann reden – und ihm meinen Hals hinhalten. Es sollte offen heraus, welche Drohung er gegen mich ins „Spiel“ brachte und dass ich nicht bereit war, hier meine Position aufzugeben. Mir war klar geworden, welche Macht er bereits gewonnen hatte. Aber wie konnte ich wissen, ob er mit seiner Anschlagsdrohung ernst machte oder nicht? Die Wahrscheinlichkeit, das Unwahrscheinliche tat-sächlich zu tun, war seine Stärke und es war mein Problem, diese Stärke und meine eigene Unterlegenheit ihm gegenüber nicht sehen und akzep-tieren zu wollen. Ich wollte mich jetzt dieser Wirklichkeit stellen und mich mit ihm darüber auseinandersetzen, in der Hoffnung, dass sich die Situation da-durch verändern könnte.
Mit Herzklopfen fuhr ich in die Justizvollzugsanstalt. Ich hatte große Angst. In der Anstalt weihte ich einige Arbeitskollegen in mein Vorhaben ein. Es sei risikoreich, sagten sie, aber es könnte gelingen. Keiner riet mir zu, aber auch keiner riet mir ab. Ich war in dieser Sache ganz auf mich allein gestellt. Einem Beamten vom Aufsichtsdienst sagte ich, mit Zickelmann hätte ich etwas zu klären, „er wüsste schon“, wegen der Morddrohung. Er möchte doch in der Nähe bleiben und wenn ihm etwas verdächtig erschiene, solle er einschreiten. Der Beamte sagte mir seine Hilfe zu. Zickelmann stand zu diesem Zeitpunkt auf dem langen Gang seiner Abteilung. Gefangene und Anstaltspersonal gingen an ihm vorüber. Ich ging auf ihn zu, holte tief Luft, schaute ihn ganz böse an und sagte: „Auf Sie bin ich stocksauer! Was wollen Sie? – Mich umbringen?“ Zickel-mann wurde blass. Er stammelte: „Doch nicht hier, wo all die Leute…“ Wir gingen dann beide in einen nahegelegenen Konferenzraum. Jetzt war ich mit ihm alleine und er mit mir. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich sagte ihm alles ins Gesicht, was ich von seinem Vorhaben wusste. Dass er mir „die Schrote“ durchschneiden wolle und dass er mich „abstechen wolle wie ein Schwein“. Dann sagte ich mit großer Entschiedenheit: „Herr Zickel-mann, ich bin genau so ein armes Würstchen wie Sie. Natürlich können Sie mich umbringen. Worauf warten Sie noch? Los, Mensch, dann tun Sie’s doch!“
Wende und ihre besondere Form
Dann geschah etwas Seltsames. Zickelmann traten Tränen in die Augen. Und plötzlich fiel er mir in die Arme und begann mich zu streicheln. Da lag er nun an mich geschmiegt, wie ich es von einer Frau her kenne. Er schluchzte und stammelte heftig bewegt: „Aber Herr Heinz, ich kann Sie doch nicht umbringen. Lieber bringe ich mich selber um. Ich kann doch keinen Menschen töten wie ein Tier. Sehen Sie, nicht einmal so einen kleinen Schnitt könnte ich bei ihnen machen.“ Dabei deutete er mit seiner Hand einen Ritz an meinem Unterarm an. Dann kramte er plötzlich in seinen Taschen und legte alles auf den Tisch, was drin war: Taschentuch, Tabak, Feuerzeug, ein paar Pfennige Bargeld. Er hätte doch gar kein Messer dabei. Dabei wurde er von heftigen Weinkrämpfen erschüttert. Nein, nein, er könne mich doch nicht töten; eigentlich habe er mich sogar gern.
Was war geschehen? Zickelmann war ohne Übergang von der einen Position in die andere hinübergewechselt: Gerade noch war er der eiskalt berechnende und sich zum Herrn über Leben und Tod erklärende Erpresser. Jetzt aber, als wäre ein Schalter in ihm umgelegt, verwandelte er sich in einen Einfühlsamen und Leidenden, der sich zurücknehmen kann und unterordnet. In gewisser Weise präsentierte er sich jetzt selbst als Opfer. Schon der leiseste Gedanke meinerseits daran, dass er diese Drohung jemals hätte wahr machen können, erschütterte ihn daher auf eine eindrucksvolle Weise.
Plötzlich ging die Tür auf. Mein ‘Schutz-mann’ schaute herein, sah, dass Zickelmann weinte und ich noch lebte. Mit den Worten: „Gleich kommen Sie sich die Post abholen, Herr Zickelmann“, machte er verwundert die Tür wieder zu. Ich selbst war wie benommen. Mit so einer heftigen emotionalen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Was sollte ich jetzt tun? Ich fühlte mich sehr hilflos. Zickelmann rauchte eine Zigarette und sagte, er wolle mit seinen Tränen so nicht auf die Abteilung gehen. Auf einmal merkte ich, dass mit mir etwas Seltsames passiert war: In mir hatte sich ein lange angestauter Alpdruck gelöst und ich fühlte mich nun leicht wie schon lange nicht mehr. Zusammen mit Zickelmann verließ ich den Konferenzraum.
Bildquellen
- GB: Gerhard Böttcher