Bildanalytisches Denken

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Ich stelle nun die These auf, daß die Tasse für uns etwas Besonderes leistet. Und wie sieht das nun aus?

Da ist also zunächst einmal eine Kanne mit dem heißen oder warmen Getränk darin. Wollten wir jetzt ohne Hilfe der Tassen davon trinken, haben wir uns zunächst einmal auf eine Reihe von Einschränkungen einzulassen:

Ohne Tassen müßten wir an die Kanne jetzt direkt heran. Das hieße aber, wir könnten nicht aus diesem Vorrat so ohne weiteres trinken – wenn zur gleichen Zeit das noch ein anderer will. Wir müßten also vielleicht erst mal warten, bis der andere die Kanne freigibt. Außerdem müßten wir mit dem sperrigen Behälter ganz besonders sorgsam umgehen, sonst könnte schnell ein Mißgeschick geschehen.

Wir müßten uns in unserem Trinkstil auch ganz diesem Vorratsbehälter und seiner besonderen Form anpassen. Vielleicht kommen wir an das warme Gut ja nur in ganz kleinen Schlückchen oder umgekehrt auch nur in größeren und wenig kontrollierbaren „Schüttungen“ heran. Vielleicht verbrennen wir uns auch die Finger an der Kanne, weil wir sie irgendwo anfassen müssen, wo sie zum Anfassen nicht so gut geeignet ist. Wir müßten es uns auch versagen, den Geschmack des Getränkes individuell noch etwas abzuwandeln, wenn ein anderer, der aus der Kanne mittrinkt, es anders haben will – und auch dann, wenn wir allein aus der Kanne trinken und wir es uns mittendrin anders überlegen und das Getränk nicht mehr so süß wie bisher haben wollen.

Wir sehen, die Tasse bietet uns viele Vorteile, die wir bei einem „Direktanschluß“ an den Vorratsbehälter nicht hätten:
Wir können in gut kontrollierten und uns selbst genehmen Schlucken das Getränk zu uns nehmen. Wir können es in der Temperatur gut kontrollieren, vom Rande nippend trinken, das Ganze an der verhältnismäßig großen Oberfläche gut abkühlen lassen.

Wir können unseren Genuß in der Form persönlich variieren, das Getränk in vollen Zügen genießen oder auch in feinen kleinen nippenden Schlucken. Wir können auch unseren Lippen eine besondere Wohltat bieten und uns obendrein das Gefühl verschaffen, etwas ganz für uns allein und persönlich zu haben, so wie einen kleinen Schatz, der nur für uns allein da ist. Das zeigt uns dann die eigene Tasse an, die vielleicht sogar den eigenen Namen trägt und mit der wir vielleicht auch eine ganz persönliche Geschichte verbinden.

Interessanterweise erinnert das alles auch an sehr frühe Verhältnisse, die wir alle kennen, also an die Ernährung durch die warme Zufuhr aus der Brust der Mutter oder aus der Nuckelflasche. Lassen wir diesen Vergleich einmal zu, dann sehen wir einigermaßen verblüfft, daß wir durch den Gebrauch von Tassen nicht einer alten Glückseligkeit hinterherlaufen und diese uns ersatzweise wieder herzustellen suchen.

Nein, wir sehen eher, wie der Mensch mit diesen Tassen eine uns viel besser erscheinende Form der Mutterbrust-Versorgung entwickelt hat.


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