Bildanalytisches Denken

Bildanalytisches Denken

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Paßt diese Vorstellung vom Psychischen jetzt auch noch zu unserer zuerst aufgestellten Formel, die da lautete: „Das Seelische ist das jeweilige Bildverstehen“? Sie widerspricht der vorgenannten Formel – wie wir gleich sehen werden – natürlich nicht, sie gibt nur einen anderen Blick auf die Sache. Das kann aber helfen, unser neues Konzept vom Seelischen noch etwas genauer und tiefer zu erfassen. Aber auch hier müssen wir wieder übersetzen.

Bildverstehen sagt ja: „Da ist etwas, was sich nach diesem oder jenem Bild versteht“. Wir tun also so, als ob die Welt von lauter kleinen Seelen belebt sei – wie in der Philosophie des Animismus etwa: Da wo wir ein Bildverstehen feststellen, soll also etwas existieren, das „sich versteht“, so als befände sich dort ein der menschlichen Seele analoges Sein. Natürlich wissen wir, daß es UNSINN ist, z.B. in dem Ohrwurmhaften des gehörten Liedes eine Art Seele im engeren Sinne zu vermuten, und wir fassen daher dieses „Sich-Verstehen“ auch gerne in einem übertragenen Sinne auf. Und dann heißt Bildverstehen einfach, daß etwas NACHVOLLZIEHBAR“ (also verstehbar) in sich zusammenhängt.

Mit der von uns gewählten Formel wollen wir aber darauf hinweisen, daß sich die seelische Wirklichkeit gerade nicht auf das reduzieren läßt, was mit Hilfe eines Bildes sich voll nachvollziehbar beschreiben läßt.

Der Begriff vom „Bildhaften-sich-Verstehen“, den wir für die seelische Wirklichkeit gesetzt haben, soll daran erinnern, daß die psychischen Dinge uns immer als sehr eigenständig entgegentreten, so als würden sie tatsächlich ihren „eigenen Kopf“ haben und in der Lage sein, sich (und zwar jetzt im engen Wortsinne) selbst zu verstehen.

Das Tassengleichnis führt, wie wir sehen, unser Verstehen vom Seelischen auf die ihm eigene Art weiter und verhilft dabei auch zu einem tieferen Verständnis unserer Formel vom Bildverstehen. Und von dieser Formel sind wir ja ausgegangen.

Wir erinnern uns: Das Konzept „Bildverstehen“ als Fassung unserer WAHL für DAS, was WIR unter Psyche verstehen, war der Ausgangspunkt für unser Tassen-Experiment. Es ging darum zu zeigen, daß jedes beliebige „Ding“ aus sich heraus ein Gleichnis und einen eigenen „Ordnungszusammenhang“ entwickeln kann. Und um es uns nicht zu leicht zu machen, habe ich das Beispiel einer sogenannten unbeseelten Sache gewählt, also das Beispiel eines zwar alltäglichen, aber „materialen” Gegenstands.

Wir können jetzt – durch den Umweg über das Tassengleichnis um einiges klüger geworden – sagen: Das Seelische ist überall da, wo es darum geht, sich auf ein bestimmtes Doppeltes einzulassen, auf Zusammenhänge, die man in ihrer paradoxen Natur und in ihrer logischen Unauflösbarkeit erst einmal so stehenlassen und akzeptieren muß. Und das ist gut zu wissen – besonders dann, wenn wir vom Seelischen und seiner besonderen Natur profitieren wollen. Letzteres haben wir ja vor, wenn wir uns das Wissen um die besondere Natur des Seelischen für eine Psychotherapie und Beratung fruchtbar machen wollen. Aber hierzu werde ich gleich noch etwas mehr sagen können.

Schließen wir also hiermit jetzt unsere Überlegungen zum Beispiel der Tasse als einem seelischen Gleichnis ab:
Auch die Tasse hat
also, wie sich zeigen läßt, ein bildhaftes Sich-Verstehen, kurz
ein „Bildverstehen“:
Sie versteht sich als das Angebot eines kleinen raumschaffenden Aufschubs innerhalb eines ganz bestimmten, auf Zufuhr und Kontinuität ausgerichteten Übergangsprozesses.

Damit sehen wir, wenn ich den Faden von vorhin wieder aufgreifen darf, daß die sogenannten toten oder technischen Dinge mit in den Gegenstandsbereich einer bildanalytischen Psychologie hineinfallen. Und wir sehen, daß die Dinge, wenn wir sie erst einmal in ihren eigenen Möglichkeiten ernstgenommen haben, sich bald als umfassende Formeln und Gleichnisse erweisen. Sie werden dabei jeweils zu etwas weit über sich selbst Hinausweisendem. Bilder sind also nicht nur Ausdrucksbildungen VON etwas (und schon gar nicht bloße Audrucksbildungen eines alles bestimmenden Gesamtzusammenhangs – wie z.B. Goethe es uns in seiner Morphologie zu lehren versucht hat) – sie sind vielmehr Ausdrucksbildungen im Sinne eines gleichnisgebenden Zusammenhangs und Formel FÜR etwas.
Welche Konsequenzen bringt das nun mit sich, den Begriff der Psyche solcherart zu erweitern?
Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich hier einen Aspekt besonders hervorheben: Wenn das Bildverstehen die Sache ist, die uns interessiert, dann tun wir etwas für eine reichhaltigere Welt, für eine Welt, die uns eine Vielfalt von „in sich verstehbaren“ Zusammenhängen bieten kann. Wir müssen den verspürten Zusammenhängen nicht mehr eine – durch ein bestimmtes System vorgeschriebene – Ableitung verpassen. Wenn Bilder gleichsam Formeln sind, welche aus SICH heraus Zusammenhang stiften, dann können wir auch auf IHNEN unsere Ordnungen bauen. Auch von IHNEN aus läßt es sich kategorisieren. Ein festes Kategoriensystem allerdings gibt es dann nicht. Deutlicher: Ein System von Kategorien (also ein festes Begriffssystem), was die seelischen Zusammenhänge für jeden Fall gleichermaßen übersetzbar macht, gibt es in einer bildanalytischen Psychologie nicht.


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