Bildanalytisches Denken

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Der Mensch scheint mit den Tassen das, was wir alle entwicklungsgeschichtlich einmal als Erfahrung höchster Beglückung erlebt haben, überbieten zu wollen: Denn im Unterschied zu früher laufen wir beim Trinken nicht Gefahr, mit einem falschen Handgriff (bzw. mit einem unpassenden Biß) den Fluß zum Versiegen zu bringen – z.B. Mutter wird sauer. Wir sind nicht auf ein kleines Rinnsal angewiesen, wir können auch in großen Schlucken genießen, wenn wir wollen. Wir müssen uns nicht anstellen, weil die andere Brust jetzt dran ist oder das Geschwisterchen. Wir brauchen uns beim Trinken auch nicht groß anzustrengen. Wir staunen hier bei dem Vergleich mit frühen Formen flüssiger Zufuhr, daß der Mensch sich mit der Erfindung der Tassen verbessert hat. Und die Nostalgie der paradiesischen Kindheit tritt für einen Augenblick etwas zurück.

Bisher habe ich vor allem davon gesprochen, was die Tasse für uns leistet. Dabei habe ich nicht ohne Vergnügen der klassischen Psychoanalyse eine gewisse Referenz erwiesen bzw. ihrer besonderen Wertschätzung der frühkindlichen Verhältnisse.

Wir haben auch gesehen, daß die Bedeutung der Tasse nicht ausreichend damit erfaßt wäre, wenn wir in ihr nur die Leistung einer Kompensation oder eines Ersetzens früherer und idealerer Verhältnisse zu sehen versuchten. Ein über die frühen Verhältnisse hinausgehendes Verfügen- und Genießenkönnen schien uns vielmehr die besondere Leistung zu sein, die sich für uns mit einer Tasse als Gebrauchsgegenstand verbindet.

Ist die Tasse damit aber schon als ein Bild und Gleichnis verstanden, welches sich auch in anderen Dingen und Zusammenhängen zeigen und als Verstehenshilfe nützlich machen kann? Wenn die psychische Realität „Tasse“ sich nach einem bestimmten Gleichnis oder Bild versteht (also ein Bildverstehen hat), dann muß sie das leisten.

Wie ist das jetzt mit der Tasse? Kann sie uns auch zu einer Verstehenshilfe für anderes werden? Dazu formulieren wir das bisher Gesagte jetzt etwas ins Allgemeine um:

Die Tasse, so haben wir gesehen, ermöglicht uns eine Form stofflicher Zufuhr, in deren Mittelpunkt eine Art raumschaffender Aufschub steht. Der Stoff, um den es in unserem Beispiel geht, ist der Tee. Stoff im übertragenen Sinne kann aber auch etwas ganz anderes sein:

Eine Haltung, z.B. die Einstellung einer bestimmten Sache gegenüber, eine Idee, die jemanden bewegt – alles das wären Beispiele für etwas Durchgängiges, das sich analog zum flüssigen Stoff in der Kanne auf dem Weg in etwas anderes hinein befindet.

Die Tasse gibt diesem Prozeß und Übergang, in dem sich der Stoff befindet, eine besondere Fassung:

Das Einbringen des Tees in die Fassung der Tasse gehört zum Prozeß der persönlichen Einverleibung des Stoffes schon dazu, der entsprechende Stoff bleibt aber noch weitgehend unverändert dabei, wenn wir einmal von einer möglichen individuellen Beigabe (von Zucker oder auch Zitrone im konkreten Falle) absehen.

Die „Tasse“ ermöglicht es uns nun, diesen Prozeß in ganz bestimmter Weise auszudehnen und zwar so, daß wir das Ganze so gut wie möglich nach unseren EIGENEN Bedürfnissen und GESETZEN durchführen können.


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