Bildanalytisches Denken

Bildanalytisches Denken

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Sowie Nietzsche das „aphoristische Denken“ gegen das system-gebundene gestellt hat, so stellen wir das bildanalytische (bild-perspektivische) Denken gegen eine Psychologie, die mit einem System arbeitet. Durchkämmen wir die Wirklichkeit mit dem Raster des einen oder anderen psychologischen Systems, wie es eben so üblich ist, dann erhalten wir natürlich früher oder später eine straff geordnete – und vor allem das System bestätigende – Abfolge von Zusammenhängen.

Man kann sich gut vorstellen, daß bei einer klassisch psychoanalytisch ausgerichteten Ableitung z.B. die Welt irgendwann tatsächlich aus lauter phallischen oder oralen sowie analen oder ödipalen Vorgängen und ihren Entsprechungen besteht. Im Falle einer bildanalytischen Betrachtung und Durchforschung der Wirklichkeit wird die Welt hingegen vielfältiger und lebendiger, eben bildperspektivisch. In diesem Falle schickt sich jedes Bild an, SELBST ein Gleichnis und damit eine Art „ordnender Zusammenhang“ für das Ganze zu werden.

Schließlich und endlich wollen wir aber nicht übersehen, daß eine solche Wirklichkeit vielleicht auch Angst machen kann. Es ist ja nicht gesagt, daß sich jeder Mensch eine solche, vielfältig zentrierbare Welt auch wirklich wünscht und haben will.

Mit meiner Werbung für dieses Denken möchte ich die anderen existierenden Auffassungen von Psyche also keinesfalls geringschätzt wissen. Als Bildanalytiker liegt es mir vielmehr daran, gleichsam Geschmack zu machen auf etwas Neues, vielleicht also darauf, sich bei Gelegenheit noch einmal etwas genauer mit unserer Art des „bildanalytisch“ genannten Denkens auseinanderzusetzen. Vielleicht hilft hierzu ja auch die Wendung unseres Blickes auf die praktischen Konsequenzen dieses Denkens, auf die Konsequenzen für eine Psychotherapie und Beratung zum Beispiel.
2. Die Bedeutung unseres Konzepts für eine Psychotherapie und Beratung
Werfen wir zum Schluß noch einen kurzen Blick auf die Probleme, in die sich das Psychische verwickeln kann – in einer Welt, die sich in Bildern und Gleichnissen versteht. Was ist, wenn sich unser Handeln und Erleben plötzlich selbst nicht mehr versteht? Eben hatte irgendwie noch alles Hand und Fuß und jetzt erscheint es so, als verstünden sich die Dinge, in denen wir stecken oder die wir produzieren, selbst nicht mehr. Sie scheinen ohne rechten Sinn und Zusammenhang. Was ist los? Haben wir jetzt etwas falsch gemacht? Nein! In eine solche Situation kommen Menschen immer dann hinein, wenn sich ihre Entwicklung in einem Übergang befindet. Seelisches ist gleichsam im Übergang von der einen Ordnung in die andere hinein. Umbrüche dieser Art gehören lebenswichtig zu unserer Entwicklung hinzu, das ist uns bekannt. Und was wir dabei erleben können, ist nicht nur die Auflösung der ehemals Zusammenhalt gebenden Bildzusammenhänge, sondern leider auch das noch Fehlen von etwas Funktionierendem Neuen, was die entfesselten „Kräfte“ wieder in ein sinnvolles Ganzes bringen könnte; höchstens eine Ahnung davon könnte schon dabei vorhanden sein.

Eine ungünstige, aber nicht selten auftretende Reaktion auf solche – sich andeutende – Umbruchserfahrungen im ganz normalen Leben ist z.B. das Krankwerden. Das Seelische versucht in diesem Falle gleichsam mit Gewalt, durch die entsprechende Störung oder Krankheit wieder ein Sich-Verstehen in die Dinge hineinzubringen: Jetzt weiß man wenigstens, was oder wo es einem fehlt, alles Weitere kann von jetzt an auf die Lösung dieses Problems ausgerichtet werden; Seelisches versteht sich wieder, wenn auch für den Preis eines – wie Sie sich denken können -sehr hohen Aufwandes. Ich kann mich nicht durchsetzen oder ich bin schüchtern und werde so schnell rot oder ich habe furchtbare Konzentrationsschwierigkeiten; so oder so ähnlich kann sich das anhören.

Als Betroffener übersieht man sehr schnell dabei, daß diese Betrachtungsweise schon selbst Therapie ist und zwar eine Art Selbstbehandlung der Schwierigkeiten eines Übergangs. Das im Augenblick so viel Raum einnehmende Sich-nicht-Verstehen der gelebten Zusammenhänge hat aber sicherlich eine ganz andere Behandlung verdient. Und natürlich kann es bei einer psychotherapeutischen Hilfestellung nicht darum gehen, auf diese bereits schon vorhandene Form der Therapie noch eine weitere Therapieform „draufzusetzen“. Der Betroffene muß sich mit Hilfe des Psychotherapeuten wieder trauen, sich den gelebten, Sich-selbst-nicht-mehr-Verstehenden Zusammenhängen zu stellen und sich wieder auf das Ganze seiner Wirklichkeit einzulassen, mitsamt seinen (zu einem Umbruch immer dazugehörenden) Merkwürdigkeiten. Das Seelische braucht jetzt eigentlich einen Raum, in dem es versuchsweise das eine oder andere, ihm noch unbekannte, gleichsam in kleinen Dosierungen an sich und als Wirkung in der Realität und bei den anderen in Erfahrung bringen kann. Die Tasse als Gleichnis – wir haben sie ja jetzt im Hinterkopf – würde uns sagen, daß es in einer Psychotherapie darum geht, einen kleinen raumschaffenden Aufschub sicherzustellen.


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