Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Seite 10

Ein neues Bild von Wissenschaft

Eine Psychologie dieses Formats kann sich nur entwickeln und gedeihen, wenn es ihr gelingt, ein eigenes Verständnis von Wissenschaft aufzubauen und sich darüber mit den anderen Wissenschaften in ein Verhältnis zu setzen. Die inhaltlich und methodisch neuen Erfahrungen, die sich schon früh im Umgang mit dem Seelischen abgezeichnet haben, müssen auf diesem Wege gewürdigt und ernst genommen werden. In diesem Sinne muss die Psychologie als erstes einmal festhalten, dass es für sie in der Wissenschaft vom Seelischen darum geht, etwas Vertrautes aufzubrechen. Bekannte Dinge, an denen wir eigentlich nichts Überraschendes wahrzunehmen vermögen, zeigen plötzlich etwas Unerwartetes. Sie verwundern uns und versetzten uns ins Staunen. Wir können uns nun fragen, ob sich nicht die Wissenschaft im Allgemeinen als eine Methode verstehen muss, die Selbstverständlichkeiten aufbricht und uns etwas Neues im Vertrauten zugänglich macht. Die traditionelle Wissenschaft macht es nicht, sondern versucht, das Unbekannte und Neue auf etwas schon Bekanntes zurückzuführen.
Aber aus Sicht der Psychologie liegt der Dreh- und Angelpunkt einer Wissenschaft darin, das Vertraute/Allzuvertraute in etwas Neues und Überraschendes zu überführen. Das Staunen ist also der Ort, wo wir hinwollen. Einstein hat das wohl ähnlich gesehen und die traditionelle Wissenschaft auf den Arm nehmend formuliert: „Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen“.
Die Psychologie setzt in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft eigene Akzente. Dabei geht sie auf verschiedene Fragen ein: Was ist mit Empirie gemeint, allgemein und für die Psychologie im Besonderen? Muss nicht jede Wissenschaft ihre Ergebnisse an d e r Realität überprüfen, aus der dieselben entnommen sind (das Seelische also an der Realität des Seelischen)? Was ist allgemein der „Gegenstand“ einer Wissenschaft, sind damit die „Objekte“ gemeint, die wir bearbeiten oder sind es die Methoden, mit denen wir auf die Dinge losgehen, oder gibt es noch eine andere Auffassung hierzu? Gibt es methodisch gesehen eine universale Wissenschaft, die sich in den verschiedenen Bereichen lediglich ausdifferenziert, oder ist eine andere Ordnung angemessener. Die notwendigen Fragen können hier nicht alle gestellt und ihre Antworten nicht alle gegeben werden. Eine mögliche Positionsbestimmung von einer zukünftigen Psychologie möchte ich in knappen Zügen hier dennoch entwerfen.

Methodenentwicklung und Modellbildung

Die Wissenschaft der Zukunft tritt nicht mehr mit dem Anspruch einer generalisierenden Methode auf, die alle Objekte einer möglichen Wissenschaft mit den gleichen Prozeduren „behandeln“ will. Sie tritt vielmehr in verschiedenen Formen auf. Am wichtigsten ist dabei der Typus einer methodenentwickelnden Wissenschaft. Diese Form von Wissenschaft übersetzt alles, was ihr begegnet, auf eine eigene, universale Perspektive und entwickelt dabei Methoden, die auf die Natur ihrer eigenen Phänomene aufs Genaueste passt. Eine andere Art von Wissenschaft lässt sich als modellbildend charakterisieren. Die modellbildende Art des wissenschaftlichen Arbeitens bestimmt sich über einen „äußerlich“ gut abgrenzbaren Objektbereich. Sie lebt nicht von einer universalen Perspektive, welche sich in ihren Übersetzungen die ganze Wirklichkeit zum Thema macht – vielmehr sucht sie, weitgehend sachunabhängig in der Methode, Modelle für eine Realtität zu entwickeln, die einer objektiven Wirklichkeit so nahe wie möglich kommen. Die Unterscheidung in subjektiv und objektiv spielt hier eine große Rolle. Gesucht ist unterschwellig die wahre Ordnung der Wirklichkeit, eine Ordnung, der wir uns über alles Subjektive hinweg, in immer besser werdenden Modellen nähern können.
Für die „methodenentwickelnde“ Wissenschaft gilt dagegen eine andere Idee. Sie versteht sich als eine methodische Veranstaltung, die dazu da ist, die Methoden in den Dingen selbst zu erfassen und zu verstehen. Methoden treffen auf Methoden und erzeugen in ihr das hochkomplexe Problem einer Rückbezüglichkeit. Und damit sind wir wieder beim Thema des Paradoxen und seinen unauflösbaren Widersprüchen angekommen. Die Aufteilung in eine von von außen schauende, objektive Perspektive und eine subjektive, die uns als unlösbar mit den Dingen verhaftet sieht, lässt sich von dieser neuen Idee her nicht mehr rechtfertigen. Die Charakterisierung dieses Typs von Wissenschaft als „methodenentwickelnd“ stellt das Problem der Rückbezüglichkeit in den Mittelpunkt: Methoden „behandeln“ Methoden. Es gibt keinen trennenden Punkt im Außen, nur Umzentrierungen und ähnliche „Konstruktionen“. Daher gibt es auch keine objektiven und wahren Herangehensweisen, mit denen wir in immer besser werdenden Modellen uns einer wahren Wirklichkeit mehr und mehr nähern können. Herangehensweisen sind Methoden wie auch die Gegenstände einer Wissenschaft Methoden sind. Auf die Wissenschaft vom Seelischen bezogen heißt das: Das Seelische meint das bildhafte oder gleichnishafte Verstehen einer Wirklichkeit. Sogar Dinge haben demnach ein „Bildverstehen“, das heißt: alles versteht sich nach dem einen oder anderen Bild (Gleichnis oder Analogie).

Ebenbürtige Wissenschaften

Die Wissenschaft hat die Aufgabe, in diesem Gewirr von Zusammenhängen ein Zusammenspiel zu entwickeln, was die jeweilige Sache zum Sprechen bringt. Im Fall der Psychologie geht es um die „erlebbaren Zuammenhänge“, im Beispiel der Physik um die räumlich-zeitlichen und in der Mathematik z.B. um die formalisierenden Zusammenhänge. Die Gesetze, die wir dabei entdecken können, beschreiben wie z.B. die seelischen Phänomene noch einmal unter sich selbst zusammenhängen (Beispiel: Gestaltschließung, Verkehrung), genauso wie die raum-zeitlichen Phänomene in der der Physik (Beispiel: Energieerhaltung, Entropie) und die formalisierenden Zusammenhänge in der Mathematik (Beispiel: Gruppenbildung, Kompaktifizierung von Unendlichkeiten).
Zu meinem Bild von einer zukünftigen Psychologie gehört es, dass diese zusammen mit den ebenfalls methodengebenden Wissenschaften Mathematik und Physik wie ebenbürtig nebeneinander existieren und nach dem Beispiel des Märchens sich auch gegenseitig helfen lassen können. Nehmen wir hierfür die Analogie des Schlussbildes im Märchen. Die beiden Geschwister des Zweiäugleins haben nach einer langen Zeit der Entwicklung, alles Übergriffige in ihrem Verhältnis zum Schwesterchen fallen gelassen und Zweiäuglein, hat inzwischen ein eigenes Zuhause gefunden. Es muss jetzt nicht mehr vermittels einer magisch bleibenden Eigenwelt (Tischleindeck-Dich-Zauber) oder eines Unterkriechens (Leben unter dem umgekippten Fass) eine ihr versagt bleibende Zugehörigkeit kompensieren, die ohnehin – und das stellt sich nicht selten erst gegen Ende einer Entwicklung heraus – einen zu hohen Preis gefordert hätte.

Psychologie und Metadiskussion

Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückkommen. Wir gingen von den unauflösbaren Widersprüchen in den Paradoxien aus und davon, dass die Wissenschaftsgemeinschaft in weiten Teilen etwas gegen die Logik des Paradoxen in ihrem Bereich einzuwenden hat. Durch unseren Blick darauf, wie es der Paradoxie gelungen ist, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, ihren Fuß in das wissenschaftliche Denken und Arbeiten hineinzubekommen, sind wir zunächst auf die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie gestoßen, welche im Bezug auf diese Problematik sehr früh schon den Mut hatte, einen eigenen Weg zu gehen.
In einem nächsten Schritt habe ich versucht, diese Entwicklung weiterzudenken. In einer von einer zukünftigen Psychologie und Wissenschaft ließ sich ein interessantes Bild entwerfen, ein Bild von einer methodisch eigenständigen Psychologie, die ihren Phänomenbereich in den erlebbaren Zusammenhängen hat. Sie hat damit eine Wirklichkeit zum Gegenstand, die nicht an irgendeiner Stelle aufhört wie die Geographie zum Beispiel mit ihren prinzipiell inventarisierbaren Objekten. Sie bezieht vielmehr alles ein, was der Perspektive des Erlebbaren zugänglich ist. Ihre Phänomene können sich mit denen aus anderen Wissenschaften überschneiden. So kann eine Allee mit Bäumen zugleich auch als ein mathematisches Phänomen verstanden werden. Dann sehen wir anstelle der Allee, eine gleichabständige Anordnung ähnlicher Objekte, die in zwei Reihen parallel nebeneinander herlaufen. Aus der Perspektive einer Psychologie hätten wir es hier mit einer Allee zu tun, mit dem Hintergrund von Spaziergängern, einem bestimmten, einfallendem Sonnenlicht und einer herbstlichen Stimmung vielleicht. Für den formalisierender Blick auf die Alle ergäb sich ein Bild mit ganz anderen Kontexten. So fände hier z.B. die Krümmung, welche die Reihe der Bäume in ihrem Verlauf beschreibt eine besondere Beachtung oder ihre gleichbleibende Steigung mit dem Wert „0“ in der Höhendimension. Die beiden „Welten“, die wir jeweils beschreiben überschneiden sich irgendwie und „tun sich“ dabei dennoch „nichts“. Veränderungen, die wir aus der einen Beschreibungswelt heraus unternehmen, sind mit irgendwelchen Veränderungen in der anders beschriebenen Welt verbunden, aber sie sind es nicht auf eine verstehbare Weise. Genauso ist es auch, wenn sich in ein und demselben Ereignis, die Phänomene einer hirnpyhsiologischen Beschreibung mit den Phänomenen einer Erlebensbeschreibung überschneiden. Auch in diesem Falle scheint es eine gewisse Verschränkung der Geschehnisse über die perspektivischen Grenzen hinaus zu geben, einen inneren Zusammenhang zwischen den Welten aber nicht.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer