Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

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Ein neues Sehen mit „Zweiäuglein“

In einer ersten spielerischen Version wird (dem Märchen folgend) jetzt eine neue, vielfältige Welt von Zusammenhängen entdeckt (Tischlein-deck-dich) und analog zum Märchen „schmeckt“ diese Welt unserem Forscher auch sehr gut – wobei wir berücksichtigen müssen, dass diese Welt zunächst einmal auch eine nach außen hin abgeschottete Eigen- und Inselwelt war. Sowohl im Märchen ist das so als auch in der Welt des Siegmund Freud, was die Anfänge seiner Forschungen betrifft.
Wie also schaut das Zweiäuglein auf die Sache? Beim Niederschreiben ist mir aufgefallen, dass ein Verstehen dieser Methode durch die Sprachgewohnheit schwergemacht wird, die in diesem Falle weitgehend aus einer fachspezifisch medizinischen und psychoanalytischen Literatur kommen. Also stelle ich das Muster des Zwei-Äugleinblickes zunächst einmal an einem anderen Phänomen dar, welches noch nicht durch die psychiatrische oder psychoanalytische Literatur eingefärbt ist. Nach erfolgter Beschreibung des Musters, können wir dasselbe dann recht leicht – wie ich denke – auf die neue Freud‘sche Sicht der „hysterischen“ oder „neurotischen“ Phänomene übersetzen, um diese Methode dann auch deutlich sowohl von der Dreiäuglein- (der Kranke simuliert) als auch von der Einäugleinmethode (aus dem Heil verstoßen sein) unterscheiden zu können.
Nehmen wir das Beispiel des sehnsüchtig Wartenden. Jemand erwartet „seinen Schatz“, aber der kommt und kommt nicht. Wenn sich beide darin noch nicht sicher sind, ein Paar zu sein, kann es passieren, dass der Wartende sehr leidet. Es spielt aber noch etwas anderes in diese Situation hinein. Der Wartende wird sich im Warten einer Bindung bewusst, von der er bis dahin so viel noch nicht gewusst hatte. Er wird von der Situation ergriffen, wie jemand, der den Erwarteten schon als zu ihm zugehörend bewertet. Der Wartende könnte das – vorausgesetzt, dass die seelischen Dinge sich so schön isolieren lassen – jetzt auch mit dem Gefühl eines Zugewinnes erleben, indem er etwa spürt, dass er hier schon bestimmte Wurzeln hat und dass ihm an dem anderen viel liegt.
Aber die Wirklichkeit produziert Erfahrungen oder Gefühle, die schräg dazwischen liegen oder wie aus einer Verschränkung von beiden sich beschreiben lassen. Wir können solche Gefühle und die dementsprechenden Verhaltensweisen nur schlecht in einer zerlegenden Weise beschreiben. Die unangenehmen Gefühle des Wartens beziehen in einer schwer beschreiblichen Weise die besagten Bindungs- oder Verankerungsgefühle mit ein und deshalb tut das Warten auch so richtig „schön“ weh.

Merkwürdigkeiten werden verständlich

Die Wirklichkeit des Normal-Leidenden, und das betrifft uns alle, sieht so aus, dass wir die paradoxe Natur, also die Zweiseitigkeit der seelischen Dynamik irgendwie anerkennen in unseren Gefühlen und Verarbeitungen. Es gibt aber auch Erlebensformen und Verarbeitungen, die diese Zweiseitigkeit und Paradoxie zu leugnen versuchen. Und damit sind wir bei den sogenannten psychopathologischen Phänomenen. Methoden dieser Art, also solche, die sich an dem Doppelbödigen unserer Realität vorbei zu drücken suchen, haben sich Freud im Umgang mit dem „Ziegenjob“ plötzlich erschlossen. Sie sind ihm bei seiner Arbeit aufgegangen – natürlich nicht mit einem Schlag. Aber an diesem Ort und mit diesem Klientel.
Bevor ich nun an dieser Stelle weitermache, möchte ich am Beispiel des Wartenden noch einen Hinweis darauf geben, wie dieses Verleugnen stattfindet und funktioniert. Stellen wir uns ganz einfach vor, der sehnsüchtig Wartende würde in seiner misslichen Lage plötzlich behaupten, er habe seinen Partner sowieso schon durchschaut und ihn auch schon beim letzten Treffen in diesem oder jenem Punkt nicht wirklich glauben können und kurzum, er wisse es eigentlich schon länger, dass der andere, auf den man wartet, es eigentlich nicht wert sei. In diesem Falle würde der so zu sich Sprechende das tatsächliche Verbundensein verleugnen und die durchaus fühlbare Bindung, die zu einer produktiven Resonanz für vieles Weitere werden könnte. Diese Bindung, die ihm jetzt also ein bisschen weh zu tun droht, ist genau die Seite, die es im Beispielsfalle hier zu unterdrücken gilt (wir können dabei an die Freud‘schen Begriffe der Abwehr und Verdrängung denken) Dieses Leugnen (nicht zu verwechseln mit der Verleugnung im Sinne eines seelisch „frühen“ Abwehrmechanismus, den Freud erst in einem späteren Forschungsabschnitt entdecken konnte) schafft dem Betroffenen jetzt einen riesigen Aufwand an den Hals und setzt ihn den kompliziertesten und aufwendigsten Situationen und Wendungen aus.
Dieselbe Methode, die versucht, die unangenehme Seite des Ganzen zu leugnen, bindet den Betreffenden nun um so stärker an genau die Sache, die er grade auszuklammern sucht. Die tatsächliche Bindung wird dabei in ihrer Bedeutung immer mächtiger: Der Betroffene verliert nicht etwa den Kontakt zu der ausgeklammerten Sache, wie es z.B. in psychotischen Zusammenhängen der Fall ist, sondern er versteigt sich vielmehr immer weiter in dieselbe hinein und gerät dabei mehr und mehr in eine verdrehte und schließlich dauerhaft verkehrte Wirklichkeit hinein.
Ein solches Ausklammern zeigt sich in seinem Funktionieren auch in Fehlleistungen und Versprechern z.B., die uns auch jenseits einer leidend gewordenen Gesamtstruktur begegnen. So berichtet Freud von einem Chef, der zu seiner kleinen Belegschaft, einen Toast aussprechend, sagt: ich möchte auf ihr Wohl aufstoßen. Die Fehlleistung zeigt, wie sich hier etwas gleichsam mit Gewalt durchsetzt, wenn auch etwas „verrückt“ und ohne den Betroffenen in Form einer Krise ganz „ordentlich“ erst einmal auf das Problem aufmerksam zu machen. Das Problem schlägt einfach zu: Durch die Gunst der wortbaumäßigen Verwandschaft zwischen dem „Auf“- und dem „An“-stoßen wird es der Seelendynamik des Chefs möglich, einen mühsam zurückgehaltenen Wunsch endlich mal ein bisschen Leine zu lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde, so könnte man sagen, darf etwas davon „herausschießen“. Wahrscheinlich geht es um den in allem Tun und Fühlen mühsam ausgesperrten Wunsch nach einem sehr deutlichen und direkten Kontakt zu seinen Mitarbeitern, in welchem er sein Unbehagen einmal zum Ausdruck bringt – ein Unbehagen, dass vielleicht in den Worten „ich finde Euch zum Kotzen“ seinen natürlichen Ausdruck finden würde. Die Anspielung auf das, was einem im wörtlichen Sinne „hochkommen“ kann, wird durch das Vertauschen der Vorsilbe „An“ mit „Auf“ (von
Aufstoßen) für das versteckte Ausbringen des Wunsches nutzbar gemacht.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer