Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Seite 2

Ein Märchen als Gleichnis

Im Folgenden möchte ich von einer psychologischen Sichtweise berichten, die sich auf eine neue Weise mit dem Problem der Unauflösbarkeit von Widersprüchen auseinandersetzt. Hierzu müssen wir uns zu einem bestimmten geschichtlichen Schauplatz begeben. Es ist die Psychiatrie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts in Wien, der Ort, an dem die Psychoanalyse ihren Anfang nahm. Mit einem Gleichnis möchte ich zeigen, dass sich hier bezüglich der Bedeutung des Paradoxen ein ganz neues Denken zu entwickeln beginnt. Gemeint ist das Märchen vom Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm.

Zum Inhalt des Märchens:
Drei Kinder, die sich durch ihre Augenzahl unterscheiden wachsen mit einer Mutter auf. Das Einäuglein und das Dreiäuglein sind die Stars der Familie. Die Mutter mit ihren beiden Favoriten erlaubt dem Zweiäuglein nur eine Randexistenz (beim Essen z.B. bekommt es immer nur die Reste). Das Zweiäuglein hat aber wie zum Ausgleich einen eigenen magischen Bereich mit einem echten Tischleindeckdich gefunden (da ist eine Ziege, die sie täglich hüten muss und welche ihr auf ein Sprüchlein, den ihr eine alte Frau verraten hat, immer einen vollen Tisch beschert). Mutter und Schwestern werden stutzig darüber, dass es der Verstoßenen bei allem Leid, das sie ihr zufügen, doch noch so gut geht, also versuchen sie hinter ihr Geheimnis zu kommen. Zunächst wird das Einäuglein zum Ziegenhüten mit auf die Wiese geschickt. Zweiäuglein versteht es aber, sein Schwesterchen in den Schlaf zu singen, bevor es sein Tischleindeckdich spricht. Es singt ihr ganz konkret das eine Auge in den Schlaf. Als das Dreiäuglein dran ist, geht aber mit dem Schlaflied etwas schief. Zweiäuglein verwechselt die Worte zwei und drei miteinander und singt: „Dreiäuglein schläfst Du, Zweiäuglein wachst Du?“. Eines der Augen bleibt dabei offen. Der schönen Eigenwelt und ihrem Zauber wird durch die Schlachtung des magischen Ziegentieres daraufhin ein Ende bereitet.
Dennoch, etwas konnte von dem Wundersamen weiterleben – wenn auch in verwandelter Gestalt. Denn das Zweiäuglein hatte auf Rat des besagten weisen Weibleins die Eingeweide des Zickleins vor dem Hause vergraben. Und daraus hatte sich am Tag darauf ein Baum mit silbernen Zweigen und goldenen Früchten entwickelt!
Die Einzige nun, die diese Früchte abbrechen konnte, war das Zweiäuglein. Ansonsten änderte sich nicht viel in der kleinen Familie bis ein junger Ritter vorbei kam und sich über die goldenen Früchte freute. Zweiäuglein, verstecktgehalten unter einem umgestürztem Fass – traut sich in dieser Situation, durch das Herausrollen eines goldenen Apfels auf sich aufmerksam zu machen. Danach wird es von dem Ritter als die Einzige erkannt, welche die schönen Früchte brechen kann und auf eigenen Wunsch von demselben auch mit fortgenommen. Der Baum, von dem die beiden Schwestern und die Mutter dachten, dass er ihnen erhalten bliebe, um die Vorbeireisenden auch weiterhin in ein Staunen versetzen zu können, verschwand aber mit dem Zweiäuglein am nächsten Tag und folgte ihm nach. Jahre später, wie das Märchen berichtet, stehen dann zwei Frauen vor dem Schloss, in dem Zweiäuglein inzwischen lebt und betteln um ein Almosen. Es sind die Schwestern. Zweiäuglein nimmt die beiden auf und sie finden eine Beschäftigung als Bedienstete am Hof.
„Zweiäuglein“ oder der doppelte Blick
Was zunächst einmal an dem Märchen auffällt ist, dass hier das Abnorme (symbolisiert im Ein- und Dreiäugigen) vorgezogen wird vor dem Normalen. Das Alltägliche oder das Normale (symbolisiert im Zweiäuglein) wird sowohl von der Mutter als auch von den Geschwistern wie etwas Verächtliches behandelt und ausgiebig unterdrückt. Die alltägliche Umgehensweise mit dem Seelischen, dargestellt im Symbol des Zweiäugleins, wird hier offenbar zum Mittelpunkt einer spannenden Geschichte. Die Entwicklung zeigt wie sich Zweiäuglein aus einem fremdbestimmten Versorgtsein herausentwickelt, um schließlich von eigenem Orte aus, das Gold seiner Fähigkeiten mit der Welt teilen zu können. Mit den Schwestern, die durch das normale Leben in ihre Schranken verwiesenen werden, kommt es am Ende in einer reifen Art und Weise wieder zusammen.

Schauen wir uns also zunächst das Bild oder Gleichnis „Zweiäuglein“ etwas genauer an. Die Zahl „zwei“ als Augenzahl ist vollkommen normal und unauffällig. Auffallend sind vielmehr die beiden Geschwister, die ja als einäugig und dreiäugig beschrieben werden. Wenn das Zweiäugleinbild uns einen Hinweis auf etwas Eigenes und Besonderes geben will, dann ist es vielleicht die Anspielung auf einen „doppelten“ Blick mit dem wir uns in der Welt orientieren können. Der doppelte Blick des Zweiäugleins entspricht dem unspektakulären bzw. alltäglichen Umgang mit dem Seelischen: Und das bedeutet: Ein erster Blick bringt uns z.B. in Kontakt mit dem Versprechen, das in der jeweiligen Sache liegt, auf die wir uns einlassen wollen, und der zweite Blick setzt uns dann ahnungsvoll in Beziehung dazu, wie sich die besagte Sache auch in die genau falsche Richtung entwickeln kann.

Die Zweiäugleinmethode bedeutet also: Jede Sache gibt es in einem ersten und in einem zweiten Blick. Wie beim ganz normalen Stereo-Sehen des menschlichen Augenpaars stehen diese Bilder nicht nebeneinander oder oszillieren in einem Nacheinander. Sie stehen vielmehr wie ein einziges Bild zusammen: Eines der beiden Bilder steht wie ein Nebenbild im Dienste des anderen und gibt diesem in einer gewissermaßen verschränkten Realisierung eine zusätzliche Orientierung und räumliche „Tiefe“.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Im Aufkeimen eines Verliebtheitsgefühles schwingt das potentielle Verlustleiden schon mit an, wenn sich das Aufwühlende einer Verliebtheit in uns aufbaut. Die Ambivalenz in der es bei der Zweiäuglein-Methode mit ihrem Entwicklungsversprechen und dem Gefühl für die Verkehrung derselben geht, bekennt sich zu einer Unauflösbarkeit von Widersprüchen. Jemand, der sehnsuchtsvoll auf seine/n Geliebte/n wartet, erfährt, dass das, was ihm ein Gefühl der Stärke gibt, (ich liebe und mir ist die andere Person wichtig) noch mit einer anderen Sorte von Erleben in Verbindung steht (ich kann das Warten nicht ertragen), was sich dann insgesamt in dem doppelbödigen Gefühl eines Bangens ausdrückt und ganz ohne eine Trennbarkeit in die beiden Gefühlsanteile über uns verfügt.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer