Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Seite 8

Eine Psychologie der Zukunft

Die Situation der neuen Wissenschaft wird in zweifacher Weise eine Änderung erfahren. Die eine zielt auf das Selbstverständnis des Eigenen, die andere Änderung ist auf das Bild einer Wissenschaft im allgemeinen gerichtet. Kurz: Ein neues, allgemeines Verständnis von Wissenschaft wird sich herausbilden müssen, damit die Psychologie als ebenbürtig akzeptiert und mit Gewinn in die Gemeinschaft der Wissenschaften aufgenommen werden kann. Wenn es gut läuft, wird die Wissenschaftsgemeinschaft am Ende von dem Neuen einer Psychologie etwas gelernt haben, etwas, das ihr allgemeines Selbstverständnis betrifft. Beginnen wir mit dem neuen Bild vom Seelischen.
Erlebbare Zusammenhänge
Gegenstand der Wissenschaft vom Psychischen sind die erlebbaren Zusammenhänge. Das bezieht alles ein, was die Qualität der Erlebbarkeit besitzt und meint damit alle bild- und gleichnishaften Verhältnisse, in denen wir uns „bewegen“ und auch die Dinge um uns herum. Wenn wir z.B. „gespannt“ darauf sind, zu erfahren, wie eine bestimmte Idee ankommt oder „heiß“ darauf sind uns das heimlich gedrehte Video von der Familienfeier anzuschauen oder „aufgekratzt“ nach einer super gelaufenen Prüfung, von der wir aber noch nicht das offizielle Ergebnis kennen – immer meinen wir einen besonderen seelischen Zusammenhang. Selbst wenn wir davon reden, dass ein Vortrag seinen Faden verliert oder ein Gespräch versandet. In allen diesen Fällen gilt: Die Bilder sind bereits das Erlebbare, also der besagte seelische Zusammenhang. Sie sind nicht nur Abbilder einer Wirklichkeit, also einer wahren Wirklichkeit, die noch hinter diesen Dingen liegt – wie man es nach der Dreiäugleinmethode z.B. sehen könnte.

Wie kommen diese seelischen Zusammenhänge nun zustande, wo kommen sie her? Die Zusammenhänge bildhafter oder erlebbarer Natur stellen sich – und das ist das Besondere – gegenseitig her. Wir finden immer nur Gegebenheiten, wie sie sich im Bild einer anderen Gegebenheit darstellen (das Gespannte eines Bogens z.B. im Kontext einer offenen Bewertung oder das Aufgekratzte im Kontext einer erwarteten positiven Überraschung etc.). Das Eine erscheint im Bild des Anderen, denn erst darin hat es eine Form und eine Gestalt. Die seelischen Zusammenhänge sind immer schon Gleichnisse und nicht irgendwelche Rohlinge, auf die von außen erst noch etwas deutend einwirken muss. Nichts existiert also im Seelischen, ohne bereits in etwas anderen schon gebrochen zu sein. Der ganze Reichtum des Seelischen geht auf diese Art des Herstellens von Wirklichkeit zurück. Dabei nehmen sich die seelischen Verhältnisse und Einheiten gegenseitig in den Dienst.
Freud- und Leiderfahrungen setzen sich dabei fortwährend in ein bewertendes Verhältnis und zwar zu dem, was gerade der Stand einer Entwicklung ist. Dabei kommt es durchgehend zu Widersprüchen, auch wenn diese nicht immer explizit wahrgenommen werden. Eine Verpflichtung z.B., in die unser Partner einwilligt, und welche eine Bindung neuerlich absichert, erhält vielleicht gerade durch diesen Akt einen ernsthaften Riss (Misstrauen durch ein Zuviel an Absicherung). In so einem Falle würde die besagte Bindung ganz im Gegensatz zur implizierten Wirkung um einiges unsicherer werden. Hier hätten wir ein Beispiel dafür, dass sich das Handeln im Rahmen einer Entwicklung immerzu auch gegen seine eigenen Zwecke verkehren kann. Das bewertende Erleben kann einen solchen Prozess schon in den Ansätzen erspüren und dann auch eine Korrektur einleiten. Die Erfahrungen von Freude oder Leid warnen uns davor, wenn es falsch zu laufen droht (Leid) oder stacheln uns an, wenn es in die richtige Richtung geht (Freude). Widersprüche sind also in diesem Verständnis vom Seelischem etwas ganz Besonderes, sie haben gleichsam eine Struktur in sich und sind die Grundelemente einer ersten groben Ordnung in einer ansonsten sehr komplex strukturierten, man könnte auch sagen „unordentlichen“ Natur des Seelischen.

Widersprüche neu verstehen

Am Beispiel einer Spirale möchte ich die „Struktur“ des Widerspruchs einmal auf eine grafische Weise deutlich machen. Wir können bei einer Spirale zwei Zusammenhänge unterscheiden. Einmal sehen wir in ihr etwas, das mit der Ausdehnung und Verlängerung einer Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin zu tun hat. In diesem Falle sehen wir die Kreisbewegung als eine Ausschweifung oder eine zeitliche Verzögerung, bezogen auf das Zugehen auf ein bestimmtes Ziel. Wir können den Zusammenhang aber auch als einen Versuch sehen, vor einer Endlichkeit zu fliehen. Dann sehen wir, wie ein Kreis sich zu schließen sucht, und seine Schließung durch eine permanente, und in jedem kleinen Schritt stattfindende, Steigung hintertrieben wird.
Vor einer Endlichkeit fliehen und eine Entwicklung ausschweifend voranbringen, das erweist sich in der Tat als etwas Gegensätzliches. In dieser Formulierung haben wir auch schon ein Beispiel für einen Widerspruch, wie er sich im normalen Alltag unseres Seelenlebens und nicht nur im Bereich des Grafischen beobachten lässt.

Beeinträchtigungen im Seelischen

Aus einer so beschriebenen psychischen Natur lässt sich nun auch ableiten, was eine „Störung“ ist, oder was der Analogie einer Krankheit folgend das Seelische und seine Entwicklung beeinträchtigen kann. Nach dem neuen Verständnis von Seelischem müssen wir von zwei Schwachstellen innerhalb des Psychischen ausgehen. Die Erste hat damit zu tun, dass die vielfältigen Auslegungen zwischen den Zusammenhängen nicht mit der kulturell geteilten Form von Erfahrungen übereinstimmt. Das ist der Fall, wenn die Erfahrung von Kehrseiten grundlegender Entwicklungen für eine gefühlsmäßige Bewertung des konkreten Geschehens nicht zur Verfügung stehen. Die erlebnismäßige Steuerung von Entwicklungen über eine kulturspezifische, und auf die Kehrseiten von Entwicklungen hin geeichte Freud-Leiderfahrung, kann so in einem Bereich des Lebens schwerwiegend behindert sein. In diesem Falle können Entwicklungen jäh abstürzen oder es kommt zu Erlebnissen, die extrem abweichen von der gemeinsam geteilten Realität. Wir haben es hier, weit gefasst, mit den Phänomenen der Kriminalität zu tun und mit dem Psychotischen (ebenfalls im weiten Sinne).
Eine zweite Schwachstelle hängt dagegen nicht mit der fehlenden Erfahrung sondern mit der Drehbarkeit von Funktionen zusammen. Wenn das Eine im Dienst des Anderen steht, kann sich genau dieses Verhältnis auch drehen. Eine Kultur schränkt ein beliebiges Drehen ein. Sie bevorzugt Entwicklungen und stellt deshalb die Erfahrung von Freude und Leid in den Dienst solcher übergreifender, und von ihr geförderter Prozesse. Aus diesem Grunde kann es aber auch passieren, dass die Erfahrungen von Freude und Leid, welche im Normalfalle der konkreten Entwicklung eine Orientierung geben, sich dagegen verschwören, lediglich Diener von Entwicklungen zu sein. Sie versuchen dann den Spieß herumzudrehen und alle Entwicklungen sollen von nun an ihnen dienen. Das bedeutet: das Erzwingen wollen von Glücksgefühlen oder eine generelle Form der Leidvermeidung wird zur obersten Devise erklärt. In einem solchen Fall haben wir es mit Zwängen im weiten Sinne zu tun und mit dem was wir klassisch unter einer neurotischen Störung verstehen.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer