Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

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Startprobleme für ein neues Denken

Die Entdeckungen Freuds betrafen im Wesentlichen das unlogisch erscheinende Seelische bzw. die ihr eigene und besondere „Logik“. Dabei ging es um eine Logik, die von einem reinen logischen Schließen abweicht aber ebenfalls Ordnung und Gesetze hat. Für Freud ging es um eine Logik des Unbewussten und um die Zusammenhänge einer neuen Wissenschaft (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie).
Die Erforschung dieser Zusammenhänge bekam sehr schnell eine Art Eigenleben. Auf das Märchen bezogen können wir uns fragen: Warum sollte Zweiäuglein sich gegen den Widerstand der Schwestern und der Mutter, um einen besseren Platz am Tische der Familie mühen? Hier hatte Zweiäuglein, jedenfalls was das Essen betraf, alles was das Herz begehrte. Auf unser Thema zurück übersetzt heißt das: Die Psychoanalyse bekam erstmal einen ungeheuren Schub nach vorne – nicht zuletzt durch die provozierende Verbindung ihrer Theoriebildung mit Dingen, die im öffentlichen Leben und in der Diskussion Tabu waren, den sexuellen Dingen nämlich. In einem Kontext der ärztlichen Hilfeleistung war das schon sehr brisant, das Erforschen von sexuellen Phantasien und ähnlichem. So lässt sich auch das Abschotten und das Zirkelbilden um die Person von Siegmund Freud verstehen.
Die erste Position im Umgang mit dem Neuen ist durch die Wiederholungen im Märchen gekennzeichnet, welche mit der wundersamen Einrichtung eines solchen Tischleins beschrieben wird. Man konnte auch in der Situation der frühen Psychoanalyse immer wieder alles „verschwinden lassen“ und sich im Schutze einer anerkannten Existenz als Neurologie-Arzt z.B. zurück in die alte Ordnung retten. Zur Not konnte man sich auf die Formel „wer heilt hat Recht“ herausreden, und auf einen möglicherweise nicht mehr so fernen Zeitpunkt verweisen an dem die naturwissenschaftlichen Grundlagen zum Verständnis dieser Phänomene vorliegen würden.
Was wir in Analogie zum Märchen in einem nächsten Schritt erleben, ist der Versuch der Wissenschafts-Gemeinschaft, in das seltsame Geschehen einzugreifen. In der kleinen Familie, von der das Märchen erzählt, fragte man sich: Was geschieht da gerade mit unserem Zweiäuglein, das doch eigentlich leiden müsste und stattdessen so frisch und gut gelaunt ausschaut. Was nährt unser uninteressantes, eine Randexistenz besetzendes Schwesterchen neuerdings? Und so fragte man sich schließlich, ob man dem Geheimnis nicht mit den bewehrten Methoden des Einäuglein oder Dreiäuglein auf die Spur kommen könne. Zunächst versuchte man das Problem mit dem Einäuglein beizukommen: Man versuchte also das, was dem Schwesterchen Neues begegnet war (und wovon man nicht das Geringste verstand), zunächst einmal mit der Einäugleinmethode zu klären: In einer ersten Verkürzung nahm man an, dass es sich bei den neuen Beobachtungen um eine Art von Katharsis (Abfuhr von Spannungen) handeln müsse, welche die Symptome zum Verschwinden bringen kann. Für das Denken nach der Einäuglein-Methode lag es nahe, sich eine „eingeklemmte“ Seele zu denken, die sich durch ein Abreagieren gleichsam wieder Freiheit verschafft, um sich dann wieder mit einem störungsfreien Nervenkostüm „zurück zu melden“. Nicht zuletzt ging es ja meist um so peinliche Dinge wie die Sexualität, von der man sich eine Schuld zeugende und Verklemmungen produzierende Wirkungsweise gut vorstellen konnte. Diese einfache Erklärung mit ihren zentralen Anleihen bei einem Denken, das auf das Ideal einer „Geschlossenheit ohne Reste“ ausgerichtet ist, schaffte es natürlich nicht, dem Zweiäuglein sein Geheimnis zu entreißen. Vor einer solchen Verwechslung wusste sich auch die Entwicklung der Psychoanalyse zu schützen. Die Methode ließ sich nicht auf die besagte Weise verkürzen. Im Märchen wird das Einäuglein sanft und erfolgreich davon abgebracht, vom Geheimnis etwas mitzukriegen, Zweiäuglein singt es in den Schlaf.


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  • Computergrafik: Karin Fischer