Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

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Zur Verdeutlichung stelle ich noch einmal die unterschiedlichen Haltungen heraus, die sich gegenüber standen: Die Methode, die wir mit dem Bild des Einäugleins verbunden haben, sieht in den Symptomen der „Hysterie“ eine Bestrafung für etwas Sündhaftes. Für sie gilt das Ideal einer Widerspruchsfreiheit, welche alles Einordnen und Verstehen regelt: Die Gesundheit eines Menschen, so glaubt man, hinge davon ab, dass unser Handeln und Trachten sich in Einklang mit der Moral und ihrem Gut und Böse befindet. Das „Im-Einklang-sein“ wirkt hier wie ein regulierendes Prinzip: Der Kranke ist darin der „In Sünde-gefallene“, der dies folgerichtig in seinem Kranksein austrägt (Strafe Gottes).
Die neurologisch-wissenschaftliche Methode bestimmte die offizielle Umgangsweise mit den hysterischen Phänomenen. Sie deckt sich mit dem klassisch-naturwissenschaftlichen Denken allgemein. Und dieses hat heute noch einen recht großen Einfluss. Aus diesem Grund möchte ich in dieser Zusammenfassung doch noch einmal gesondert auf die Naturwissenschaft eingehen.
Zwischenüberlegung: Die klassische Naturwissenschaft
Die Neurologie und die Psychiatrie der damaligen Zeit hatte ein ganz besonders Herangehen an die Sache. Sie ist in den Grundzügen auch heute noch vorzufinden und deshalb möchte ich sie noch etwas ausführlicher darstellen. Sie lebt von einer bestimmten Grenzziehung. Als Grenze ist hier die Seite einer Wirklichkeit gemeint, die wir mit dem Erleben verbinden. Kurz: Die (klassische) Naturwissenschaft beschäftigt sich (und das sagt diese Abgrenzung) nur mit den Zusammenhängen, die auch erlebensunabhängig wahr sind oder anders formuliert, in ihrer Wahr-Falsch-Qualität nicht von unserem Erleben abhängen.
Was auf diese Weise von den spannenden Zusammenhängen unserer alltäglichen Erfahrung abgespalten wird, muss sich natürlich woanders wieder zu Wort melden. Und das darf es höchst offiziell in der Form einer Geisteswissenschaft – also gleichsam wie in einem Gegenbild zur Naturwissenschaft organisiert. Hier darf das Ausgeklammerte sich dann auch auf eine deutlich andersartige Weise äußern – ohne dass es auf diese Weise allerdings irgendwelche ernsthaften Folgen für die Entwicklung des eigenen, bzw. naturwissenschaftlichen Denkens haben müsste. So hat sich das jedenfalls in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten eingerichtet.
Die Grenzziehung zur schwankenden Natur des menschlichen Erlebens schaffte auf diese Weise für die Erforschung der Naturphänomene eine Befestigung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses und Bewusstseins. Das ist ein sehr wichtiger Zwischengedanke. Diese Befestigung nämlich konnte nun im Weiteren für die Methode des Polarisierens fruchtbar gemacht werden: Die Naturwissenschaften konnten sich jetzt ohne die Gefahr eines Sich-Verlierens in der Unabgegrenztheit oder Beliebigkeit irgendwelcher (aus dem Erleben kommenden) Deutungen die Dynamik von Polaritäten erlauben: Sie setzte ganz einfach fest, dass die jeweiligen Widersprüche sich auf verschiedenen Ebenen und Perspektiven befinden und sich somit untereinander gar nicht in die Quere kommen können. Deutlicher: Eine direkte Berührung der Widersprüche war auf dieser Grundlage gar nicht erst vorauszusetzen und damit ergab sich auch kein Problem für die Modellbildungen. Dieses Denken ermöglichte einfach das Herstellen von dynamischen Modellen mit konstitutionellen Gegensätzen und Widersprüchen, die sich am Ende aber nicht wirklich, wie in einem Paradox beispielsweise, begegnen und logisch stören konnten.
In diesem Sinne konnte die Neurologie z.B. einiges Sichere über die Abläufe in den neuronalen Bahnen sagen. Ihre Vorhersagen versagten aber in bestimmten Phänomenbereichen und hierzu gehörte der Bereich der hysterischen Phänomene. Nehmen wir ein Beispiel: Der Neurologe konnte z.B. die Unfähigkeit des Patienten, einen bestimmten Reiz zu empfinden, nicht erklären, denn alle Elemente der Reizkette funktionierten. Wenn er genau das in seinem Befund (bzw. Diagnose) beschrieben hätte, wäre diese Frage als wissenschaftlich noch nicht beantwortbar anerkannt und für eine weitere Klärung offen gehalten worden. Genau das taten aber damals viele Neurologen nicht. Sie machten vielmehr Aussagen, die ihre Wissenschaft überschritten. Kurz: Sie versuchten über die nachweisbaren neurologischen Zusammenhänge hinaus Spekulationen über das ausgeklammerte Seelenleben mit einzubeziehen. Und solche Aussagen sahen dann in etwa so aus: „Eigentlich funktioniert die Wahrnehmung, der Patient täuscht uns nur eine Stumpfheit gegenüber dem Reiz vor.“ Man sagte damals „er simuliert“. Die Naturwissenschaft handelte hier in einer Art übergriffigem oder auch naiven Deuten so wie jemand, der mithilfe einer Schallwellenanalyse etwas über die „Seele“ der Musik aussagen wollte.
Die Deutung der merkwürdigen Phänomene von Hysterikern als Simulationen, sprich „als Vortäuschungen“, ist natürlich eine Zuspitzung in diesem Denken und sie provoziert unseren „normalen Umgang“, mit solchen Erfahrungen. Der Doppelblick, mit dem wir unseren Alltag ansonsten bewältigen, wird hier, wie wir im weiteren sehen werden, auf die Probe gestellt und führt zu einem neuen Sehen.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer