Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

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Drei Methoden und ein Problem

Dieses geheime Verstehen von Seelischem, mit dem wir im Allgemeinen ganz gut zurecht kommen, denken wir uns nun von zwei alternativen Methoden flankiert, die sich von unserem normalen seelischen Schalten und Walten deutlich unterscheiden. Bevor ich diese Methoden im Bild des Einäugleins und des Dreiäugleins erörtern möchte, will ich noch schnell den Schauplatz vorstellen an dem diese in meinem Beispiel ihr Zuhause haben und wo sie auf die Konkurrenz der Zweiäugleinmethode stoßen.
Mit dem Ort ist die Psychiatrie gemeint, so wie sie vor ca. 120 Jahren ausgesehen hat. Wir können sagen, dass sie damals noch ein recht peinliches Feld für die Ansprüche einer Wissenschaft war: Der Psychiater stand in der Hierarchie der Medizin, ähnlich wie das Zweiäuglein in seiner Familie rangmäßig ziemlich weit unten. Kranken, in denen man oftmals nur Simulanten sah, glaubte man weitgehend mit Apellen an die Vernunft oder mit kalten Bädern u.ä. begegnen zu müssen. Den Neurologen oder Psychiatern, und da denke ich an Siegmund Freud, der auf diesem Feld damals gearbeitet hatte, ging es nicht viel besser als dem Zweiäuglein im Märchen, was dort bekanntlich die Ziegen hüten musste. In einem übertragenen Sinne ging es auch beim Umgang mit den Hysterikern um eine Art von Ziegenhüten (so im Sinne der ungeliebten, unangenehmen Arbeit jedenfalls). Aber eine alte weise Frau flüstere dem Zweiäuglein, dass das Hüten der Ziege ein lohnendes Geheimnis in sich trüge. Kurz: Freud, der in meiner Übersetzung jetzt für das Zweiäuglein steht, bzw. für die Zweiäugleinmethode, sagte Ja zu dieser Arbeit und entdeckte eine Art von Tischlein-Deck-Dich. Für den neugierigen Forscher war das eine wahre Fundgrube. Was er auf diesem Feld der Beobachtung zu sehen bekam, führte ihn zur Einsicht in die Gesetze des unbewussten Seelenlebens sowie zum Verstehen der der Traumarbeit und der Fehlleistungen.

Aber jetzt schauen wir erst mal wie angekündigt auf die beiden Geschwister in dem Märchen. Ein- und Dreiäuglein vertreten symbolisch die beiden Methoden die zu der Zeit als Freud seine überraschenden Beobachtungen machte, an der Tagesordnung waren.
Da war zum Einen (1.) die Methode, die ich die Einäugleinmethode nennen möchte. Diese lebt von der Idee einer alles umschließenden Einheit, aus der man wie der Kranke es beweist, gleichsam herausfallen kann. Dabei geht es z.B. um die Position eines religiösen oder sonst wie moralischen Verständnisses von den krankhaften Zusammenhängen: die Hysterie war in diesem Falle eine Art Strafe für eine Schuld, (Sünde) die der Betroffene vermutlich, denn hier durfte man viel spekulieren, auf sich geladen hat. Und auf diese Weise war das Leidensgeschehen abzuleiten und schlüssig. Die verschiedenen Widersprüchlichkeiten in der körperlich-seelischen Leidensgeschichte waren damit auf eine einfache Weise vom Tisch gebracht. Die andere Methode (2.), die bei der Beurteilung der hysterischen Phänomene an der Tagesordnung war, geht davon aus, dass der Kranke nur simuliert. Diese Methode geht von einem wahren Geschehen aus, von welchem sich ein nur vorgetäuschtes Geschehen absetzen lässt. Hier steht der Widerspruch in Form einer Polarität (wahr/falsch) im Mittelpunkt. Was nicht passt, wird methodisch durch den zu Beginn bereits angesprochenen Kniff zur Auflösung gebracht. Wie von einer dritten Position, also von außen, wird hier ein „Wahres“ und dort ein „Falsches“ gesetzt. Das Wahre ist das, was Physiologie und Neurologie ableitbar machen und das Falsche ist das widersprechende Phänomen, was der Hysteriker uns liefert, z.B. dadurch, weil er eine Reizempfindung nicht hat, die er aber rein neurologisch haben müsste. Diese Methode setzt also zwei Perspektiven an: Die eine Perspektive handelt von dem Ineinander rein physiologischer Abläufe und die andere von einem Seelischen, was sich durch ein Vortäuschen und Lügen störend in die ärztliche Arbeit an der Physiologie des Körpers einmischen kann. Wie aus einer Gottesperspektive lässt sich mal die eine und mal die andere Perspektive zur Beschreibung der Phänomene heranziehen. Beides tut sich in der wissenschaftlichen Modellbildung gegenseitig nichts und stellt somit keinen wirklichen Gegensatz dar. Bei dieser Methode handelt es sich um ein generelles Muster, das allgemein in der klassischen Naturwissenschaft seine Anwendung findet, ebenso wie in den verschiedenen, daran angelehnten Kombinationswissenschaften (Beispiel Medizin). Da hier das Dritte die zentrale Rolle spielt, können wir dieser Methode im Rahmen meines Gleichnisses, die Dreiäugleinmethode nennen.
Ich fasse noch einmal zusammen: Damals war es so üblich, die Hysteriker als Simulanten in den Griff zu nehmen (Dreiäugleinmethode) und ebenso hoch im Kurs stand die Behandlung der Betroffenen als eine Art von Sündern und als Abtragende einer Schuld, die diese irgendwo und irgendwie auf sich geladenen haben mussten (Einäugleinmethode). Heute wissen wir, dass beide Methoden auf unser neues Verständnis vom Seelischen bezogen, unangemessen sind und dass sich, ausgehend von dem ganz Normalen Umgang mit dem Seelischen (also dem Zweiäugigen) ein neues Verstehen und eine neue Methode zu entwickeln begann: Die normale Methode, die in unserer alltäglichen Wirklichkeitsbehandlung zum Zuge kommt, war der Schlüssel hierzu. Diese Methode setzte in dem Umfeld der Psychiatrie den beiden tonangebenden Methoden etwas Ernstzunehmendes entgegen. Das sogenannte Ziegenhüten des Zweiäugleins (Freud im Problemfeld der Psychiatrie und Hysterie) brachte dabei etwas ganz Wunderbares an den Tag, es war für den, der zweiäugig auf die Sache schauen konnte, ein reich gedeckter Tisch, ein wahres Tischlein-Deck-Dich (Wille und Gegenwille, Logik des Unbewussten, Traumarbeit und Fehlleistung, etc.).


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer