Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Seite 9

Therapie des Seelischen

Die angemessene „Therapie“ unterscheidet sich nach den beiden Sorten von Problemfällen. Im ersten Falle, wo die Kehrseitenerfahrungen in einem bestimmten Problembereich fehlen, und daher eine Zwiesprache zwischen den Freud-Leiderfahrungen und den zugehörigen Entwicklungen nicht funktionieren, müssen die fehlenden Erfahrungen konsequenter Weise nachgeschaffen werden. Das kommt aber einer sehr schwierigen und langwierigen Nachentwicklung gleich und ist aus verschiedenen Gründen oftmals nicht möglich. Deshalb müssen unter Umständen seelische Prothesen für den Betreffenden konstruiert und entwickelt werden. Diese müssen ihm, wenn eine Nachkultivierung im betreffenden Bereich nicht mehr möglich ist, eine Abstützung in den Lebenslagen geben, in welchen er nicht aus dem Eigenem heraus die Entwicklung „verstehen“ und in verträglicher Weise korrigieren kann.
In einer Therapie dagegen, welche sich auf den zweiten Störungstyp bezieht, (Behandlung von Psycho-neurotischem) geht es darum, Veränderungsspielräume wieder herzustellen. Die Spielräume, in denen sich unsere Entwicklung immer wieder neu und passend auf die konkreten Umstände und Lagen hin ausrichten kann, sind durch das Diktat einer Obsession oder einer um sich greifenden Leidvermeidung außer Gefecht gesetzt. Sie sind aber als Implikationen der gelebten Entwicklungen immer noch im Geschehen mit enthalten und wirken auf die verborgenste Weise mit. Sie sind prinzipiell wieder belebbar. In einer Psychotherapie dieser Art geht es also um Veränderungsspielräume und zwar um eine Erneuerung oder Wiederherstellung derselben. Auf diesen Punkt werde ich in der Zusammenfassung und Gegenüberstellung noch einmal eingehen.
Das Neue im Vergleich
Im Folgenden möchte ich das neue Denken nach dem Schema
(1) Bedeutung der Widersprüche,
(2) was versteht die Psychologie unter einer Störung und
(3) was versteht sie unter einer Therapie,
mit den beiden konkurrierenden Formen vergleichen, die wir dem Ein- und dem Dreiäuglein zugeordnet haben.

Einäugleinmethode: Da ist zunächst das einfache Prinzip, das von der Haltung lebt, (1) ein Heil- oder Ganz-Sein sei der Dreh und Angelpunkt einer gesunden seelische Natur. (2) Widersprüche sind in diesem Denken die Verkörperung von Störungen oder Krankheiten. (3) Die Therapie läuft nach diesem Seelenbild auf eine Art von Reinigung hinaus. Beispiel: Geständnis und Reue.
Dreiäugleinmethode: Das zweite Prinzip, was wir im Märchen mit dem Bild des Dreiäugleins verbunden haben, sieht (1) den Grund für die Widersprüche im Seelischen darin, dass wir die Wirklichkeit unterteilen und durch das Ansetzen von Perspektiven in alle möglichen Richtungen ausdifferenzieren können. (2) Die Widersprüche, die sich im Zuge dieser Aufgliederung zwischen den einzelnen Phänomenen zeigen, tun sich nach dieser Theorie so lange nicht weh, wie sie durch eine geschickte Trennung auf verschiedenen Ebenen gut festgehalten bzw. kontrolliert werden können (formale Widerspruchsfreiheit). Eine „Störung“ im Psychischen ist von dieser Theorie her die Folge einer verlorengegangenen Kontrolle über das System dieser Trennungen. (3) In der Konsequenz hierzu ist eine Therapie dann die Widerherstellung oder Erweiterung dieser Kontrollfähigkeit. Beispiel: bei einer Flugangst kann man die statistisch realen Risiken gegen die gemutmaßten Risiken absetzen, oder wir erfahren in einer solchen Therapie, dass wir eine Wut, die sich eigentlich gegen eine Person aus der Vergangenheit richtet, auf den Nachbarn übertragen.
Zweiäugleinmethode: (1) In einer zeitgemäßen Wissenschaft vom Seelischen haben Widersprüche eine dreifach verschiedenartige Herkunft und Bedeutung. Widersprüche entstehen zunächst einmal dadurch, dass Bedeutungs-Zusammenhänge nicht isoliert für sich stehen, sondern sich in einem gegenseitigen Auslegen ihrer jeweiligen Ansätze erst herstellen. Ohne dass wir uns erst noch ein Zweck setzendes Drittes denken müssen stellen die erlebbaren Zusammenhänge also Differenz und Widerspruch untereinander her. Nehmen wir das „Beginnen“ als einen Zusammenhang, an dem wir das Gesagte einmal überprüfen wollen, Das Beginnen legt, ob wir es wollen oder nicht, alle Zusammenhänge, in denen sich etwas abrunden und schließen will auf einen Prozess des Beendens hin aus (Beginnen impliziert das Beenden und trägt es perspektisch in sich mit). Jeder erlebbare Zusammenhang ist auf eine ähnliche Weise perspektivisch. Widersprüche sind in den erlebbaren Zusammenhängen also angelegt wie die Kehrseiten einer Sache oder einer Entwicklung. Es gibt aber noch eine zweite Art von Gegensatz im Seelischen. Dabei geht es um eine Aufgabenteilung. Eine Sorte der erlebbaren Zusammenhänge hat konkrete Entwicklungen, zum Thema. Einkaufengehen, Fernsehschauen, Studieren Erwachsen werden. Alle diese Zusammenhänge beschreiben inhaltlich Entwicklungen. Dagegen setzten sich Zusammenhänge ab, die in diesen Entwicklungen sich wie ein Navigationssystem verhalten. Sie helfen, Entwicklungsetappen zu bewerten: geht es gut, oder muss was geändert werden. Alle Freud- und Leiderfahrungen helfen der Entwicklung, sich zu orientieren, damit ihre Sache gelingen kann. Nehmen wir ein Beispiel: Das Ereignis eines Aufbruchs, kann z.B. als Erleichterung erlebt werden („endlich geht es los“, „ich kann wieder tief durchatmen“). Hier haben wir es mit einer Erfahrung zu tun, die dem Aufbruch fördernd entgegenkommt Wenn wir dagegen mit dem Aufbruch z.B. ein starkes Bangesein verbinden, hätte das sicherlich eine andere Wirkung auf die Steuerung der weiteren Schritte innerhalb der betreffenden Enwicklungsangelegenheit. Es gehört offenbar zum Wesen eines kultivierten Seelenlebens, dass Entwicklungen in ihrem Mittelpunkt stehen, wie Themen, die eine Kontinuität und Einheit herstellen. die Freud-/Leiderfahrungen stellen sich in den Dienst dieser Entwicklungszusammenhänge. Das bedeutet: Wir finden eine vorgegebene Aufgabenteilung zwischen zwei Formationen des Seelischen, vor. In dieser Aufgabenteilung sehen wir also eine zweite Art von Unterschiedenheit im Seelischen. Es gibt aber noch eine dritte Art von Widerspruch, die von Bedeutung ist. Diese setzt die beiden vorgenannten Arten schon voraus und bringt sich auf einer höheren Ebene zum Ausdruck: Die in den Dienst der Entwicklungen gestellten Freud-/Leiderfahrungen können versuchen, ihrem Auftrag zu widersprechen. Damit sind wir bei einem neuen, potentiellen Gegensatz: Das Seelenleben kann sich wie in einer Revolte darin einrichten, das vorgegebene Dienstverhältnis rumzugedrehn: Das Seelische versucht dann umgekehrt die Entwicklungen in den Dienst einer Freud- und Leiderfahrung zu stellen. Es geht ihm dann z.B. darum, ein ganz bestimmtes Leid um jeden Preis zu vermeiden oder darum ein bestimmtes Wohlgefühl um jeden Preis sicher zu stellen. Die Widersprüche, um die es uns in diesem Abschied (1) hier geht, gehen also nicht allein (a) daraus hervor, dass Bedeutungen sich immer schon auf andere Bedeutungen beziehen und diese dabei bewerten bzw. interpretieren. Sie sind darüber hinaus auch (b) Folge einer vorgegebenen Kultivierungsform, welche die erlebbaren Zusammenhänge in zwei Richtungen formiert. Und auf diesem Umstand aufbauend, ist dem Seelischen auch noch die Möglichkeit gegeben, (c) sich in Opposition zu dieser kulturellen Vorgabe zu organisieren, gleichsam wie in einer Revolte. Und im schlimmsten Falle geschieht das auch dauerhaft bis es zu einer Überforderung der Verhältnisse kommt.

(2.) Beeinträchtigungen im Seelischen haben aus diesem Grunde zwei verschiedene Erscheinungsformen. Die erste bezieht sich darauf, dass die erlebbaren Zusammenhänge in einem bestimmten Erfahrungsbereich in ihrem Austausch behindert sind. Das ist der Fall, wenn die Kehrseiten-Erfahrung für einen bestimmten Typus von Entwicklungen fehlt. Das Seelische ist in diesem Falle nicht in der Lage, in seinen Freud- Leid-Erfahrungen auf Gefahren hinzuweisen, oder durch positive Wahrnehmungen etwas zum Fortune einer Entwicklung beizutragen. Deshalb werden bestimmte Entwicklungen völlig unerwartet von extremen Wendungen getroffen. Die Erfahrungen und Reaktionen können merkwürdig, und völlig unpassend sein oder uns als Übersprungshandlungen begegnen. Sie können sehr irreal und auch sehr unsozial sein.
„Störungen“ der zweiten Art dagegen sind, wie schon beschrieben, von anderer Natur und Beschaffenheit und treten auch weit häufiger auf. Sie haben etwas mit den alltäglichen Neurotizismen des kultivierten Menschen zu tun. In diesen „Störungen“ geht es um Probleme, die sich aus der dauerhaften Verdrehung einer bestimmen Indienstnahme ergeben. Kurz: Die Entwicklungen des Seelischen werden alle dem Diktat einer universalen Glückssuche oder Leidvermeidung unterworfen. Freud- Leiderfahrung stehen nicht mehr im Dienst der Entwicklungen sondern haben das Verhältnis umgedreht.
(3.) Die Therapie einer solchen Psychologie hat deshalb auch zwei verschiedene, auf die unterschiedliche Problemlage passende Formen entwickelt. Im erst genannten Fall geht es um eine Nachentwicklung des Seelischen und, wenn das nicht mehr geht um die Entwicklung von „Prothesen“. Die andere Art von Problemen, braucht eine Therapie, in der es darum geht, die Entwicklungen, in denen der Klient sich befindet von dem Diktat einer Obsession oder von dem Versuch einer zwanghaften Leidvermeidung zu befreien. Die Therapie dieses Typs zielt darauf, Veränderungsspielräume wieder herzustellen, und das heißt, sie versucht die Möglichkeiten, die in den Lebensgeschichten und gelebten Bildern eines Menschen enthalten sind wieder ins Leben zurück zu bringen. Die Flugangst, die wir eben als Beispiel genommen haben, könnte sich so als Markierung für eine Grenze erweisen, mit der man sehr ausdrücklich und dauerhaft im Hader liegt, um sich auf diese Weise nicht wirklich auf eine bestimmte, viel weiter greifende Versuchung einzulassen.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer