Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

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Das Paradoxe und die Überschneidungen

Wir müssen uns nun fragen, wie wir mit solchen Überschneidungen und den darin aufbrechenden Differenzen umgehen wollen. Sind die Widersprüchlichkeiten welche durch die unterschiedlichen Beschreibungen hervorgebracht werden, auflösbar? Die Erfahrungen aus der Psychologie laden mit dem Stichwort der Paradoxie dazu ein, von einer Unauflösbarkeit auszugehen. Zusammenhänge aus der einen Wissenschaft kommen prinzipiell nicht zusammen mit denen einer anderen Wissenschaft, solange wir es hierbei mit zwei eigenständigen Perspektiven zu tun haben.
Die Idee, dass eine Unauflösbarkeit von Gegensätzen vielleicht prinzipiell hingenommen werden muss, kann dem Gegeneinander von wissenschaftlichen Sichtweisen einen neuen Spielraum geben. Die Wissenschaftsgemeinschaft kann die Herausforderung, die in dem Bergriff des Paradoxen liegt, nutzen, ein grenzüberschreitendes Gespräch in Gang zu bringen. Das Paradoxie beschreibt die Problemlage wissenschaftlicher Welten, die sich in ihren Beschreibungen überschneiden und macht ein streitbares Angebot, wie das Problem eventuell zu behandeln sei. Über das Paradoxe kommt man miteinander ins Gespräch. Außerdem, hilft die Thematik innerwissenschaftlich, das Denken zuzuspitzen, was in spezifischen Umbruchssituationen von besonderem Nutzen sein kann (Kuhn, Paradigmenwechsel). Das Thema der Paradoxie bringt die verschiedensten Probleme und Bedürfnisse einer Wissenschaft auf den Tisch (z.B: Austausch, Zuspitzung im Eigenem, Übersetzung zwischen den Wissenschaften).
Das Interesse an der Paradoxie geht wahrscheinlich auf eine neue Art des Denken zurück, wie ich sie im Beispiel des Märchens mit der Zweiäugleinmethode beschrieben habe. Das neue Denken hatte sich in vielen Anwendungen (z.B.: Psychotherapie, Werbung, Film) schnell als sehr erfolgreich erwiesen. Die Psychoanalyse mit ihren Beobachtungen zur merkwürdigen Logik des Unbewussten war ein wirkungsvoller Anfang in dieser Entwicklung.
Dass eine bestimmte Erfahrung aus der Wissenschaft ansteckend auf alle möglichen Bereiche einer wissenschaftsinteressierten Welt wirken kann, hat sich schon einmal gezeigt. Im ausgehenden neuzehnten Jahrhundert ist die Methode des wissenschaftlichen Experiments zu einer außerordentlichen Erfolgsgeschichte geworden. In alle Bereiche der Wissenschaft hinein wollte man das erfolgreiche Vorgehen übertragen. Das brachte einen großen Schwung in die Wissenschaften und eine Ermutigung zu allerhand Neugründungen von Wissenschaften – hierzu gehört auch die Vorform einer wissenschaftlichen Psychologie, die sich hauptsächlich in Wahrnehmungsexperimenten versuchte (Experimentelle Psychologie, Wilhelm Wundt).

Einladung zum Gespräch

Heute ist es das Thema der Paradoxie, was eine ähnlich große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Paradoxe in der Wissenschaft scheint mir für eine Metadiskussion sehr nützlich zu sein. Das Thema lädt dazu ein, verschiedene Betrachtungsweisen und ihre Konsequenzen in einem Nebeneinander gelten zu lassen und sich frei zu machen von dem Druck einer generalisierenden Methode. Das Thema richtet die Aufmerksamkeit ja gerade auf das Problem von Gegensätzen, und auf die Möglichkeit einer Unaufhebbarkeit derselben. Die Gefahr von Abkürzungen und gewaltsamen Synthesen zugunsten irgendwelcher „höherer Wichtigkeiten“ wird in einem solchen Kontext schneller gesehen. Das schützt und erleichtert eine wirkliche Begegnung von Ideen.
Die Methode des naturwissenschaftlichen Experiments hatte damals zu einem rasanten Austausch zwischen den Wissenschaften geführt: In allen Wissenschaftsbereichen hatte man sich die Methode des Experiments als Vorbild genommen. Wie wir heute wissen, ist man dabei manchmal auch ein bisschen zu weit gegangen. Nicht überall machte es nämlich den gleichen Sinn, das Experiment als methodisches Vorbild zu nehmen. In den Kulturwissenschaften passte eine Überseztung der Erfahrungen aus dem Naturwissenschaftlichen Bereich nicht immer.
Etwas Vergleichbares könnte nun auch passieren, wenn wir heute versuchen sollten, das Denken in Paradoxien auf alle Wissenschaftsbereiche zu übertragen. Die diesbezüglichen Erfahrungen, so wie sie aus der Psychologie kommen, lassen sich höchstwahrscheinlich nicht 1:1 auf die Zusammehänge in den anderen Wissenschaft übertragen. Besonders interessant wird es sein, in der nächsten Zeit zu verfolgen, wie die Physik im Bereich der quantenphysikalischen Phänomene die paradoxe Logik für sich interpretieren und möglicherweise auch methodisch integrieren wird. Zur Zeit nimmt in diesem Bereich der Naturwissenschaft die Thematik des Paradoxen einen, wenn auch nicht geklärten, aber doch sehr großen Raum ein.

Psychodoxe Natur und eigener Raum

Wir können zusammenfassend sagen, dass die Analogien aus der klassischen Naturwissenschaft als Vorbilder versagen, wenn wir die seelischen Phänomene methodisch erfassen und verstehen wollen. Wir haben es im Bereich der erlebbaren Zusammenhänge wirklich mit einer eigenen „Natur“ zu tun und diese lässt sich auch nur mit der ihr eigenen Methode erfassen. Die Paradoxie und die Logik der unauflösbaren Widersprüche, spielt dabei eine große Rolle. Für das Selbstverständnis einer zukünftigen Psychologie, würde ich vorschlagen, das Denken in Paradoxien durch den Begriff des Psychodoxen zu erweitern. Immer, wenn sich die Paradoxien auf den psychischen Bereich beziehen, sollten wir die entsprechenden Zusammenhänge als psychodox qualifizieren. Der Begriff des Paradoxen kann somit freigehalten werden für den Austausch der Wissenschaften untereinander. Einer allzuschnellen Gleichsetzung von Zusammenhängen, die möglicherweise nur in formaler Hinsicht besteht, wird damit etwas entgegensgesetzt. Ich könnte mir vorstellen, dass wir innerhalb der Psychologie in Zukunft mehr von einer „psychodoxen“ Natur sprechen werden, einer „Natur“, welche das Entwickeln und Werden im Seelischen grundlegend motiviert und antreibt.
Die umfangreiche Diskussion über das Für und Wider einer Logik des Paradoxen in den Methoden einer Wissenschaft ganz allgemein, scheint mir ein Ausdruck dafür zu sein, dass die Natur des Seelischen ihren eigenen Raum in der Wissenschaft noch nicht gefunden hat. Das spannende Thema geht hier gleichsam fremd. Dass die Psychologie etwas zu bieten hat, ist ganz allgemein angekommen. Die davon zeugenden vielfältigen Metadiskussionen in den verschiedenen Wissenschaften können das aber nicht ersetzen, was die Psychologie noch für sich selbst zu erledigen hat.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer