Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

Paradoxie als Denkprinzip einer neuen Psychologie und Wissenschaft

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Rückschläge und Verwechslungsgefahr

Etwas anders lief es dann allerdings mit der sogenannten Dreiäugleinmethode. Die Objektivierungsmethode mit ihrem Denken von einer dritten und von außen auf die Widersprüche sehenden Warte verwirrte das Zweiäuglein. Das klassisch-naturwissenschaftliche Denken geht ja von Systemen aus, deren Belastung und Entlastung sich jeweils aus dem Gegeneinander von Wirkungen oder Kräften erklären: Entlastung oder Heilung findet dann über das Finden und Herstellen einer „vernünftigen“ Ausgleichsform statt. Die grundlegende Spannung wird dann darin gleichsam aufgelöst. Die Methode des Zweiäugleins, in der es stattdessen um die Unauflösbarkeit von Widersprüchen geht, konnte mit einer solchen Logik und Denkmethode aber leider noch allzu schnell verwechselt werden!

Es ist sprachlich eben sehr schwer zu unterscheiden, ob eine Widersprüchlichkeit nun so verstanden wird, dass sie in der vermittelnden Gestalt von etwas anderem „aufgehoben“ ist, oder als ein unaufhebbarer Gegensatz in etwas anderem weiterlebt. Eine Verwechslung des Neuen mit der bewehrten naturwissenschaftlichen Denkweise liegt als Gefahr tatsächlich nah. Und es kommt geschichtlich gesehen noch ein Wichtiges Weiteres hinzu: Ich denke, dass unser Zweiäuglein auch eine, wenn auch nur unbewusst wirksame Neigung dazu hatte, bei aller Faszination am Neuen, aus dieser außergewöhnlichen Rand- und Sonderwelt auch wieder herauszukommen. Wahrscheinlich wäre es allzu gerne von der Familie anerkannt. Ein unbewusst wirksamer Wunsch auf ein „dummes“ Verwechseln und Erwischtwerden, kann also durchaus hier angenommen werden.

Wie das Zweiäuglein hatte wohl auch die Psychoanalyse in ihrer ersten Zeit über weite Strecken den Wunsch, obwohl es nicht gut hierfür aussah, eine Anerkennung aus der Wissenschaftsgemeinschaft zu erhalten. Erst nach der Ziegentötung in der zweiten Phase des Zusammenlebens, wo der Baum mit den goldenen Früchten schon vor der Türe steht und sie versteckt gehalten wird, da wünscht sie sich nichts sehnlicher, als aus dem bestehenden Rahmen herauszukommen und mit fortgenommen zu werden, was sie dem Ritter; der sich für ihre besonderen Fähigkeiten interessiert, auch zu erkennen gibt. Zunächst aber mag die Neigung zu Scheitern und zu einem Rückfall in die Geborgenheit des Alten durchaus mit am Werk gewesen sein. Und so passiert dem Zweiäuglein eben die besagte kleine Nachlässigkeit: Beim Versuch, sich das Dreiäuglein als Zeugen beim Tischleindeckdich-Akt vom Hals zu schaffen, vertut es sich und singt dreimal im Wechsel falsch: Dreiäuglein wachst Du? Zweiäuglein schläfst Du? Das „Unglück“ passiert und über die Verwechslung fliegt das geheimnisvolle Treiben auf und findet in dieser Form jedenfalls ein jähes Ende. Der Versprecher (Zwei- mit Dreiäuglein) weist darauf hin, dass die Verwechslungsgefahr zwischen den beiden Methoden nicht zu übersehen ist: Das Denken in Polaritäten und ihren Ausgleichsformen, welche das Gegeneinander in einem Dritten aufheben (bzw. auflösen) – das ist schon eine große Versuchung zur Verwechslung mit dem Denken in Paradoxien und ihren unauflösbaren Widersprüchen und Ambivalenzen. Diese Verwechslung gibt es im Falle der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse tatsächlich. Und die neue Sicht auf die seelischen Phänomene fällt dabei gleichsam wieder ein Stück zurück, zurück in die altvertrauten Formen der klassisch-naturwissenschaftlich Modellbildungen.

Das Märchen hilft uns aber auch hier weiter. Etwas bleibt von dem Neugefundenen zurück – wenn auch in verwandelter Gestalt: Im Märchen hatte das weise Weiblein dem Zweiäuglein geraten, nach den Innereien des geschlachteten Zickleins zu fragen und diese vor dem Hause zu vergraben. Und wie wir wissen, ging aus den Eingeweiden am nächsten Tag ein Baum mit den tollsten Früchten hervor. Es ist ein Baum mit silbernen Blättern und goldenen Früchten, die aber kein anderer als nur Zweiäuglein brechen kann. Der Baum schmückt zwar das Haus der Familie („Medizinische Wissenschaft“), die Früchte kann aber kein anderer als Zweiäuglein von ihm holen. Ebenso erging es der neuen, tiefenpsychologisch zu nennenden Methode und Wissenschaft vom Seelischen. Die neuen Erkenntnisse entzogen sich, genauso wie die tollen Früchte im Märchen, einem generellen Zugriff der damaligen Psychiatrie und Neurophysiologie. Sie konnten die neuen Entdeckungen nicht wirklich in das Eigene Denken übersetzen. Diese blieben ihnen im Wesentlichen fremd. In den nachfolgenden Jahren versuchte man ersatzweise durch das Auffinden der hirnphysiologischen Voraussetzungen, den neuen Phänomenen wenigstens eine Bestätigung zu geben, die jetzt aus dem eigenen Denken kam.
Den vertrauten Ort verlassen
Das Neue musste den alten Ort verlassen, an dem die beiden anderen Haltungen und Methoden zu Hause waren, die sich für die Vorgehensweise eines Zweiäugleins gleichsam schämten. Unterstützung erfährt die neue Methode wie im Märchen nicht durch die Familie, sondern sie erhält sie von einem Ritter. Sie bittet darum, mitgenommen zu werden, um von dem Ort fortzukommen, an dem es für sie keine Entwicklung mehr gibt und sie verzichtet dabei auf andere Belohnungen, die ihr für die goldenen Früchte zur freien Wahl offengestanden haben. Wichtig ist auch, dass es hier ein Ritter ist, mit dem sie wegziehen kann und nicht ein Königssohn, der in einem Märchen meist für das erreichte Ziel steht. Der Ritter ist eher ein Hinweis darauf, dass es um einen liebenden Schutz geht und um die Bereitschaft, etwas zu erstreiten und zu verteidigen. Die Entwicklung, soll hier noch nicht als abgeschlossen verstanden werden. Eher geht es darum, dass an dieser Stelle der Entwicklung ein ganz neues Kapitel noch aufgeschlagen werden muss. Hierzu erzählt das Märchen aber nichts mehr im Detail; es gibt nur einen Hinweis darauf, wo die Entwicklung hingeht und voraussichtlich am Ende stehen wird. Wir erinnern uns, nach einigen Jahren stehen die inzwischen alt gewordenen Geschwister vor der Tür des Zweiäugleins, das sich inzwischen in einem eigenen Zuhause eingerichtet hatte. Die Schwestern, die ihr grobes Handeln in der Vergangenheit bereuen, finden zum Schluss eine dauerhafte Bleibe als Bedienstete an diesem Ort.


Bildquellen

  • Computergrafik: Karin Fischer