Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

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Position 3: Die unverstellte Begegnung als Wendepunkt

Der Kater hatte dem Müllersohn bisher vieles abgenommen. Wenn die Zeit reif ist, kann und muss er auf eine entschiedene Weise etwas Neues von ihm fordern. Der Müllersohn muss sich vertrauensvoll auf einen ihm nicht vor-her dargelegten Plan des Katers ein-lassen (sich nackt in einen See stel-len), auf dass sich daraus etwas Güns-tiges für ihn entwickele. Er muss sich damit der Kehrseite eines „Sich ver-trauensvollen Einlassens“ endlich wie-der stellen (bisher gab es so etwas ja nur symbolisch in der Form der geforderten Stiefelinvestition oder „Auf-tragsvergabe“).

Und was passiert nun? Zunächst ein-mal passiert eben das nicht, was er immer befürchtet hatte, nämlich, dass es ihn schlimm treffen werde, wenn er sich gottvertrauend auf eine offene Sache einließe (wie mit der Erbschaft). Er wird nicht das Opfer von irgendetwas Schlimmem! Er hat also nicht den Schwarzen Peter in der Hand. Das ist der eine Teil der neuen Erfahrung. Es passiert aber noch etwas Wichtigeres, etwas, das für solche Übergänge typisch ist: So wie die perfekte Form des Vermeidens ihn von einem direkten Kontakt mit den Dingen abgehalten und blind gemacht hat für die Chancen darin, um so mehr müssen ihm diese Möglichkeiten jetzt ins Auge springen, nachdem er sich dem Leben wieder neu gestellt hat. Und das geschieht mit der Kraft einer Initial-zündung, durch den geschenkten Blick einer Prinzessin, die offenbar an ihm Gefallen findet.

Position 4: Die neue Erfahrung kennt kein Pardon

Wenn der Klient erst einmal die Er-fahrung gemacht hat, dass ihm tat-sächlich nicht das erwartete Unglück widerfährt, holt ihn gleichzeitig eine andere Erfahrung ein; die Erfahrung nämlich, wie dumm er doch bisher ge-wesen ist. Und gerade auf diese Er-fahrung muss der Therapeut ein Auge haben. Das Folgende gehört ganz we-sentlich mit zu dem Funktionieren ei-nes sich (Wieder-) Herstellens von Veränderungsspielräumen hinzu:

Der Klient muss mit einem Schlag er-kennen, welch riesigen Aufwand er mit seiner Methode bisher betrieben und gleichsam „umsonst vertan“ hat. Er muss mit Erschrecken sehen, um was er sich alles selbst gebracht hat. Und das bedeutet: Dafür hätte er eigentlich Prügel verdient. Und genau diese Prügel werden jetzt an einem anderem Ort des Märchens ins Bild gesetzt: Prügel wird den Arbeitern am Wegesrand, nämlich jetzt vom Kater, angedroht für den Fall, dass sie nicht bereit sein sollten, dem vorbeifahrenden König zu sagen, dass die Felder, Wiesen und Wälder des großen Zauberers, dem Grafen (alias Müllerburschen) gehören. Der Zauberer ist ein Bild für das alles verschlingende, gestörte seelische System (die Neurose). Statt weiterhin in ein solches verschlingendes System Energie hineinzustecken, kann man doch gleich ins werdende Leben mit allen seinen Offenheiten und Risiken investieren. „Wie konnte ich nur so dumm sein?“, muss sich der Müllersohn fragen, angesichts des anerkennenden Blickes der Prinzessin, der ihm als ein Zufall geschenkt wurde und der nur ein Beispiel dafür ist, was ihm alles entging, während er in ein System des Schmollens seine Lebenskräfte und -zeit gesteckt hat. Diese „Gewissensprügel“ sind es, die in der brutalen Geste des Katers ins Bild gesetzt werden. Der Kater, der der königlichen Kutsche vorauseilt, hämmert den Arbeitern an den Wäldern, Feldern und Wiesen ein, dass sie ein neues Regiment zu erwarten haben und es kein Pardon und kein Zurück für sie gibt. Die harte Einsicht, eine Menge an Möglichkeiten und Chancen versäumt zu haben, „knallt“ auf den Müllersohn nieder, wie die Drohungen des Katers auf die Arbeiter gefressen oder erschlagen zu werden.

Wer einmal verstanden hat, was er wegen eines solchen „Sicherungsver-haltens“ in seinem Leben an Möglich-keiten versäumt hat, bei dem stellt sich auch schnell ein untrügliches Gefühl dafür ein, dass er sich genauso gut wieder auf die „ganz normalen“ Kehr-seiten des Lebens einlassen und von dem „faulen Zauber“ lassen kann. Und in diesem Sinne rufen die Arbeiter am Weg dem König in der Kutsche zu, dass die großen Ländereien dem Grafen gehören.


Bildquellen

  • Höhle: Karin Fischer