Bildanalytisches Denken

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Das Bild oder das Gleichnis ist für uns das, was die jeweiligen Gegebenheiten zusammenhält. Ein Bild, ein bestimmendes Gleichnis, ist für uns nicht der Ausdruck einer irgendwo versteckten Seele, sondern die Seele der jeweiligen Zusammenhänge selbst. Die Bilder sind es , die aus den Zusammenhängen ein „in sich verstehbares Ganzes“ machen. Für uns ist das Seelische nicht gleichzusetzen mit dem, was wir Erleben und Verhalten nennen, auch nicht mit dem, was wir alles unter einer Persönlichkeit verstehen. Psychisches geht darüber hinaus: Alle Prozesse, Beziehungen und Dinge nämlich, soweit sie uns bildhaft begegnen, sind von seelischer Natur.
Seelisches verstehen wir auch nicht als etwas von oben nach unten Abgeleitetes, als die jeweilige Äußerung einer über allem stehenden Charakter- oder Persönlichkeitsstruktur etwa. Wir meinen mit dem Psychischen vielmehr eine sich immer wieder neu einrichtende Wirklichkeit mit wechselnder Mitte, eine Wirklichkeit, die eben nicht ein einfaches und festes Zuhause hat.
Natürlich bietet sich uns im Erleben und Verhalten und in allem, was wir mit Persönlichkeit und Entwicklung verbinden, ein besonders gutes Feld, Psychisches zu studieren. Wir können aber das Seelische auch in ganz anderen Zusammenhängen finden, so z.B. in Prozessen, die quer durch Dinge und Menschen hindurchgehen, also z.B. auch in einem Vortragsgeschehen.
In einem Vortrag geht es nicht hauptsächlich um eine Person und auch nicht schwerpunktmäßig um ein bestimmtes Verhalten und Erleben. Die Entwicklung eines Vortrags scheint sich in ganz anderer Weise zu verstehen, als es uns die vertrauten Einteilungen in Zuhörende und Vortragenden z.B. oder in textliche und sprachliche Dinge erst mal nahelegen.
Was ist z.B., wenn der rote Faden in einer Vortragsentwicklung verlorengeht? Das „Verlorengehen des roten Fadens“ ist zweifellos ein Vorgang bildhafter Natur – in unserem Sinne also etwas Seelisches. Kennzeichnend für eine bildanalytische Psychologie ist es nun, in einem solchen Falle zunächst einmal diesem Wortbild zu folgen und davon auszugehen, daß es der VORTRAG ist, der den roten Faden verliert und nicht etwa – wie wir vielleicht gerne schlußfolgern möchten – der Redner.
Das Vortragsgeschehen als ein Ganzes ist es, um dessen Schicksal und Verlaufsgesetz es geht: Der Vortrag als ein bildlicher Prozeß, der verschiedene Menschen und Anliegen, Erwartungen, sachliche Gegebenheiten, Atmosphärisches und vieles vieles mehr in bestimmter Weise miteinander zu verbinden versteht.
Derjenige, der die Rede hält oder auch der Zuhörer etwa merkt das Verlorengehen des roten Fadens möglicherweise gar nicht oder stellt es vielleicht erst viel später fest. Und trotzdem kann dieses Bild durchgehend für den Ablauf der Rede wirksam sein und sich möglicherweise in ganz anderen Dingen als dem naheliegenden Unruhigwerden der Zuhörer oder dem „Ins Schwimmen Kommen“ des Vortragenden zum Ausdruck bringen; so z.B. in einem überbetont freundlichen Eingehen des Redners auf eine technische Frage aus dem Publikum.
Der Vortrag zeigt auf diese Weise auch eine Seele, weil er einem Bild folgt. Das heißt: die Entwicklung des Vortrags folgt einem EIGENEN Gesetz und ihr Spielraum ergibt sich aus den besonderen Zwängen und Freiheiten, die durch das spezifische Bild bestimmt sind.
Ich kann mir vorstellen, daß es für manch einen jetzt schwierig wird, diesem Gedankengang zu folgen. Es ist nämlich schon etwas ungewöhnlich, so zu denken. Und aus diesem Grunde werde ich die Form des Vortrags ab hier auch ein bißchen abwandeln. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich für die Dauer einer Viertelstunde jetzt nur noch über ein einziges Beispiel reden werde. Und hierzu habe ich einen bestimmten Gegenstand als Beispiel gewählt: Die Tasse.
Wir legen hierzu nur kurz fest, daß es uns um die Tasse als Haushalts- und Gebrauchsgegenstand geht. Das heißt, sie soll uns hier nicht so sehr als Sammelgegenstand oder Reiseandenken, auch nicht als Zeugnis der Kulturgeschichte interessieren. Nach unserer Auffassung gibt es das sogenannte Ding-an-sich ja nicht. Und also gibt es auch die Tasse nicht, ohne daß sie uns entweder in der einen oder anderen Perspektive entgegentritt.
Auch eine anscheinend so simple Sache wie die Tasse, also eine Tee- oder Kaffeetasse z.B., hat ein Bildverstehen. Und das heißt jetzt nicht nur, daß sie ein bestimmtes und typisches Erscheinungsbild hat. Nein! Wenn wir von der Tasse als einem Gebrauchsgegenstand reden, dann meinen wir etwas Umfänglicheres, etwas, das sich nicht nur auf das Äußere dieses Gegenstands bezieht.
Bildquellen
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