Bildanalytisches Denken

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Und damit, so glaube ich,haben wir jetzt auch unseren roten Faden wieder. Eine Therapie z.B. muß helfen, das Übergangshafte des Entwicklungsprozesses, indem der Betreffende sich befindet, in eine Form zu bringen. In eine Form, die für eine zeitlang den Betroffenen auf das Übergangshafte geradezu festlegt. Das ist auch wieder eine schöne paradoxe Formulierung. Besser können wir aber diesen Vorgang, um dessen Verstehen wir uns hier bemühen nun mal nicht fassen. Das haben wir ja auch schon im Laufe des Vortrages feststellen können, als es uns darum ging von der Tasse her eine universale Aussage über das Seelische zu machen. Wir sprachen von der Paradoxie als einer besonderen Fassung, in die sich das Übergangshafte der seelischen Wirklichkeit zu bringen versteht.
Das bildanalytische Denken bringt uns nun dazu, für den Bereich der Psychotherapie eine wichtige Markierung zu setzen. Und damit will ich sagen: Unser Denken hat weit ins Praktische hineingreifende Folgen. Und zwar geht es dabei um den Krankheitsbegriff: Dem heilkundlichen Begriff von Krankheit muß ein psychologischer an die Seite gestellt werden. Der heilkundlich orientierte Krankheitsbegriff verführt nämlich dazu, auf die eben beschriebene Methode des Betroffenen – die den Übergangsprozeß ja abkürzen will – zu sehr einzusteigen und den Betroffenen in seiner problematischen Haltung zu bestärken. Und das gilt besonders dann, wenn da noch die Krankenkassen mit ihren berechtigten, aufs Heilen und Bessern ausgerichteten Ansprüchen als Auftraggeber im Hintergrund mitspielen.
Der bestehende Krankheitsbegriff paßt auf die Perspektive des Funktionierens. Und dieser Blickwinkel steht gleichsam für eine medizinische bzw. heilkundliche Orientierung der Forschungs- und Arbeitweise. Versuchen wir nun aber von unseren neuen Einsichten her das psychologische Denken dagegen abzuheben, so nimmt das Psychologische für uns (im Gegensatz zum Funktionieren) die Perspektive der ENTWICKLUNG ein. Jetzt könnte ich, wenn wir noch Zeit für einen weiteren Vortragsteil hätten, die Psychologie noch einmal vom Gleichnis der Entwicklung her für Sie entwickeln. Ich glaube, Sie nehmen mir das jetzt aber auch so ab, daß so etwas möglich ist.
Wir kürzen also etwas ab: Auch von der Entwicklung her gesehen gibt es existentielle Probleme, Probleme, die im übertragenen Sinne auf Krankes und Gesundes verweisen: Die Entwicklung ist demnach „gesund“ (gesund im übertragenen oder im psychologischen Sinne natürlich), wenn sie krisenfähig ist. Das ist eine wichtige Setzung. Sobald diese Fähigkeit aber fehlt, also die Fähigkeit, die eigene Entwicklung in eine Krise einmünden zu lassen, in der es um die Bewältigung eines Umbruchs von Entwicklung geht, haben wir es mit Krankheit im psychologischen Sinne zu tun. Diese Unterscheidung zum heilkundlichen Krankheitsbegriff, der ja auf das Funktionieren aufbaut, ist entscheidend:
Ein Mensch, der sich endlich wieder traut, sich auf bestimmte Veränderungen einzulassen und der dies jetzt vielleicht gerade in Gestalt einer körperlichen Störung versteht in Gang zu setzen, der beweist doch gerade ein psychisches Gesundsein und ist nicht etwa – jedenfalls nicht im psychologischen Sinne – als krank anzusehen. Die Behandlung eines solchen Menschen sollte auf keinen Falle unter der Führung eines heilkundlichen Krankheitsbegriffs erfolgen. Ich denke, Sie verstehen warum. Umgekehrt kann ein Mensch, nehmen wir z.B. den sogenannten Workoholiker (also den Arbeitssüchtigen), der vielleicht jeden Tag sein Jogging macht, ernährungsmäßig auch nur das Beste für sich tut und keinerlei seelisch-körperliche Beschwerden hat, psychisch schlicht und ergreifend „krank“ sein, denn seine Entwicklungsfähigkeit ist vielleicht zugunsten eines universalen Beweismusters, mit dem er sich für immer Krisen zu ersparen versucht, bereits verlorengegangen. Wenn die Entwicklungsfähigkeit fehlt, sprechen wir im allgemeinen natürlich nicht von Krankheit, und das ist auch gut so. Es handelt sich ja auch nur um Krankheit im übertragenen Sinne. Und wir wollen auch nicht in diesem Punkt etwa – nicht daß ich hier jetzt mißverstanden werde – einen neuen Sprachgebrauch einführen. Der Krankheitsbegriff ist zu stark von einem heilkundlichen Denken bestimmt.
In den letzten Jahren hat sich einiges geändert: Wenn wir heute von einer Psychotherapie im engen Sinne reden, dann meinen wir meistens eine entwicklungs- und veränderungsorientierte Psychotherapie. Teilweise wird unter „Psychotherapie“ aber auch eine Dienstleistung im Sinne der Heilkunde verstanden – und möglicherweise demnächst verstärkt, durch das geplante Psychotherapeutengesetz. Um Verwechslungen zu vermeiden, sollte im Falle einer so verstandenen Psychotherapie auch immer von einer heilkundlich orientierten Psychotherapie gesprochen werden. Daß es sich in der Anwendung dieser neuen Wissenschaft, also der Tiefenpsychologie, die sich damals schnell und kräftig zu entwickeln begann, im Kern der Sache gar nicht um das Geschäft des Heilens und des Gesundmachens handelte, sondern um ein neues Umgehen mit der Entwicklung einer, an den erlebbaren Zusammenhängen seiner eigenen Wirklichkeit interessierten Persönlichkeit, das ahnte man in der interessierten Öffentlichkeit wohl auch damals schon. Das Neue mußte sich aber erst noch als etwas Eigenständiges versuchen abzuheben und durchzusetzen, und zwar neben dem Bild des Heilkundlichen, nach welchem es sich anderenfalls ja mehr ums Heilen, Lindern und Bessern statt um Entwicklung, zu kümmern gehabt hätte. Und das vollzog sich dann – für die breite Öffentlichkeit wahrnehmbar – im Wesentlichen über die Bewegung der 60er- und die der 70er Jahre, über die einschlägige und die schöne Literatur, über den, das Psychische ganz neu ins Bild setzenden Film der letzten 40 Jahre und last but not least über das In-Mode-Kommen von Selbsterfahrungen und psychologischen Weiterbildungen natürlich. Neben der Psychotherapie im engeren Sinne, die ich – in Abhebung zu einer heilkundlich orientierten Psychotherapie – entwicklungs- und veränderungsorientierte Psychotherapie nennen möchte, existiert in der Öffentlichkeit parallel dazu auch noch ein weiter gefaßter Psychotherapiebegriff: Er bezieht die heilkundlich orientierte Psychotherapie mit ein (inclusive aller Besonderheiten, auch des Psychiatrischen).
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