Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

Seite 12

Das verführende Muster

Eine solche Grundstruktur, wie ich sie soeben geschildert habe, treffen wir im Allgemeinen bei unseren Klienten an. Diese Struktur ist doppelbödig: Sie versucht einerseits, die verloren ge-gangene seelische Beweglichkeit wie-derzugewinnen, welche in diesem Sta-dium oft auch idealisiert ist, ande-rerseits versucht sie aber auch die Ver-hältnisse beizubehalten, die dem ver-selbstständigten Leiden zugrunde liegen. Wir müssen davon ausgehen, dass der Klient, genau wie der verzagte Müllersohn, nach einem „Gegenstück“ zu sich selber sucht, im Sinne eines Katerfreundes, der für ihn alles passend macht. Das stellt für die Psychotherapie als Einrichtung eine große Verführung dar. Das Schillernde, das den Begriff der Psychotherapie in der öffentlichen Meinung umgibt, spiegelt diesen Umstand wieder: Irgendwie weiß jeder, dass es in einer Psychotherapie um die Herstellung von Veränderungsspielräumen geht, aber andererseits verbindet man genau so gut etwas Manipulatives damit.

In seiner Methode geht es dem Müllerburschen, den wir als das Beispiel für einen Therapiefall nehmen, zu-nächst einmal um ein Stück idealisierter Wirklichkeit und in Anlehnung an das Märchen vielleicht um das Bild des gemachten Mannes. Mit seinem Handeln sagt er nun: „Solange die Vo-raussetzungen für mein Ziel noch nicht stimmen, hat es keinen Zweck, mich auf die verschiedensten Herausforderungen und Möglichkeiten des Lebens ernsthaft einzulassen“. Während er sich so hinter dem Schicksalsschlag eines „Zukurzgekommenen“ zurückzuziehen weiß, entwickelt er ande-rerseits aber auch eine rege Tätigkeit. Das geht nämlich nicht anders, wenn er überleben will. Auch in seinem Schmollen erkennen wir schon eine solche Art von Aktivität. Wir müssen dabei nur an den moralischen Druck denken, den ein solches Verhalten auf bestimmte Menschen und in bestimmten Situationen ausüben kann. Die besagten Tätigkeiten oder Aktivitäten sind aber weit davon entfernt, eine echte Zuwendung zum Leben zu sein, die sich den Zufällen und Wendungen stellt und davon ausgeht, dass sich erst in einem längeren Hin und Her erweist, was wirklich zueinander passt und was nicht. Ein nicht idealisierender Teil in ihm ist also der nüchternen Realität in einer extremen Weise zugewandt: Er tritt in diesem Sinne wahrscheinlich gezielt erpresserisch auf (wie der Kater mit der Drohung gegen die Arbeiter), er biegt sich die Dinge nicht selten mit Unehrlichkeiten zurecht (Tricks des Katers), und wahrscheinlich schreckt er auch nicht davor zurück, sich dort geschickt einzuschmeicheln (Kater gegenüber dem König), wo er etwas bekommen oder sich ersparen kann.

Die Möglichkeiten der eigenen Ent-wicklung sind durch das Festhalten an einem Ideal in ihrer Verwirklichung behindert. Das heißt: Der Betreffen-de kann den potentiell günstigen Zu-fällen nicht konstruktiv und offen ent-gegengehen. Entweder das, was ge-schieht, passt haargenau (und darauf kann man ein Leben lang warten) oder das „Schiefe“ wird mit Gewalt passend gemacht. Da beides keine gute Vor-aussetzung für eine Entwicklung bil-det, ist eine Enttäuschung im Ganzen vorprogrammiert. Doch genau für die-sen Fall passt auf einmal wieder alles: Der Betreffende bekommt darin Recht, dass alles keinen Zweck hat, wenn die Dinge nicht von Anfang an passen. Und bei jeder Enttäuschung, ob sie nun mit einem vergeblichen „Warten“ oder mit einem fehlschlagenden „Passendmachen“ zu tun haben, bekommt der Betreffende wiederum Recht. Und damit ist das gelebte System eigentlich unwiderlegbar geworden.

Das Märchen lässt also, wie wir sehen, auch diese Lesart zu. Dann beschreibt es, wie jemand mit den ver-schiedensten Techniken versucht, sich einerseits aus allem Herauszuhalten und andererseits kein Mittel auslässt, alles für sich und auf ein bestimmtes Ziel hin passend zu machen.

Setzt sich in einer Psychotherapie dieses Muster durch, ohne dass der Psychotherapeut die Möglichkeiten der Veränderungsspielräume durch sein Mittun hervorbringen kann, dann landen wir in einem Gegenbild von Psychotherapie. Der Therapeut wird dann zu einem anmietbarem „Modul“ im Sinne der besagten Methode wirk-sam. Er wird zum Teil einer Technik (Katertechnik), die der Klient auch vorher schon im Sinne seiner zwei-geteilten Methode eingesetzt hatte, und die er jetzt, zusammen mit dem Therapeuten, weiter perfektionieren und absichern kann. Die Kultur bietet sich für einen solchen Deal in ihrer reichen Zahl von verselbständigten „Institutionen“ und „Hilfs“- oder auch „Ablenkungs“-Einrichtungen an. In den letzten 200 Jahren ist es nicht zuletzt die Medizin gewesen, die sich eben-falls stark in diesem Sinne hat ein-spannen lassen. Eine Medizin muss um diese psychologischen Hinter-gründe und Zusammenhänge in ihren Hilfsangeboten nicht unbedingt wis-sen. Von einer psychologischen Pro-fession allerdings müssen wir ein Wis-sen um diese Art von Zusammenhängen verlangen und erwarten, dass sie sich explizit auf dieses Problem einrichtet.


Bildquellen

  • Höhle: Karin Fischer