Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

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Das Unperfekte als Prinzip
An dieser Stelle der Überlegungen wird es Zeit, an den bekannten Satz zu erinnern, der meist am Ende eines Märchens steht: „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ Dieser Satz kann uns daran erinnern, dass die in einer Therapie am Ende „gelösten“ Probleme nicht ein für alle Male verschwunden sind. Vielmehr wird der Müllersohn immer wieder mal durch das Le-ben, mehr oder weniger grob vielleicht, an die Kehrseiten eines „Vertrauenden Einlassens“ erinnert werden. Es gibt kein Mittel dagegen, sieht man einmal von der Methode ab, die den Müllersohn in Umkehrung seiner Wünsche beinahe in den Stillstand jeglicher Entwicklung getrieben hat (Schmollen, Verzagen). Vielleicht wird der Betreffende es in einer solchen Situation ja noch einmal mit Schmollen versuchen, und sich dann aber auch wieder – ähnlich wie er es in der Therapie gelernt hat – aus den entsprechenden Verstrickungen befreien.
Auch der Versuch, uns über die inneren Zusammenhänge einer Psychotherapie Klarheit zu verschaffen, muss sich mit einer Grenze abfinden: Auf dem Weg dahin, uns ein Bild von dem zu machen, was den umfassenden Prozess einer Psychotherapie zusammenhält, wurden Zusammenhänge sichtbar, die nicht nur das Hauptbild psychotherapeutischen Funk-tionierens beschreiben, sondern auch ein Nebenbild desselben. Andere Zusammenhänge wiederum machten uns auf ein Gegenbild von Psychotherapie aufmerksam und damit auf die Notwendigkeit einer Abgrenzung von Formen, die wir unter dem Anspruch einer „Psychotherapie“ als unverantwortbar ablehnen müssen.
Das Hauptmotiv, das einen psychotherapeutischen Prozess bewegt, ist das Herstellen von Veränderungsspielräumen. Und das ist besonders dort von Nutzen, wo strukturelle Zwänge sich verselbstständigen oder sich bereits verselbständigt haben. In Einigem, was die Psychotherapie tut, setzt sie sich aber auch, vergleichbar mit der Medizin für eine Störungsbeseitigung ein oder wirbt, so als ginge es schwerpunktmäßig um eine Lehre, für ein bestimmtes Bild vom Seelischen. Wir können in der Psychotherapie also eine Reihe von Nebenmotiven am Werke sehen. Sie gehören mit zu dem Ganzen, vorausgesetzt, dass sie sich nicht verselbständigen, sondern immer wieder zum Hauptmotiv hin in eine fruchtbare Beziehung gesetzt werden.
In der institutionellen Wirklichkeit von Psychotherapie spiegeln sich die genannten Probleme wieder. Wir können feststellen, dass sich, wie in einem Hauptbild von Psychotherapie, eine psychologische Profession entwickelt, deren Ziel es ist – unabhängig von den Zwängen einer Heilberufsordnung – Veränderungsspielräume herzustellen. Das Nebenbild einer Psychotherapie wird dagegen geprägt von einer medizinlogischen, bzw. „interventionsorientierten“ Psychotherapie. Hierzu steht als organisatorische Hilfe das Modell einer medizinischen Fachdisziplin bereit. Die in der Krankenversorgung eingeführten Verfahren müssen sich zur Zeit von diesem Bild her definieren.
Und wie verhält es sich nun mit dem Gegenbild einer Psychotherapie im institutionellen Bereich? Das Gegenbild einer Psychotherapie können wir auf der Ebene der Einrichtungen eben-falls sehr gut wiederfinden. Hier geht es dann um Psychotherapieangebote, die sich in ihrer Arbeit und Zielsetzung zum Hauptbild einer Psychotherapie wie abgespalten verhalten. Hier findet kein kontrollierender Rückbezug der Nebenmotive auf das Hauptbild statt. Gemeint sind also Therapieformen, die auf diese Weise eine reine „Entstörung“ zu betreiben suchen oder auch eine ideenmäßige und qua-sireligiöse Einverleibung des Klienten (z.B. Sekten).
Bildquellen
- Höhle: Karin Fischer