Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

Struktur und Funktionieren von Psychotherapie – Eine psychologische Analyse

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Strukturelle Verdichtung im Bild eines Märchens

Wir werden sehen, dass sich das Funktionieren einer Psychotherapie auch in die Form eines „sinnlich-dyna-mischen“ Gleichnisses übersetzen und sich so noch einmal mit Gewinn auf eine andere Art und Weise be-schreiben lässt. Das besagte Gleich-nis, das der Inhaltlichkeit und Kom-plexität der behandelten Sache ge-recht wird, finden wir in einem Mär-chen wieder, konkret in dem Märchen „Der gestiefelte Kater“.

In Deutschland kennt man es aus der Grimmschen Kinder- und Hausmär-chensammlung. Die Fassung der Ge-brüder Grimm (1812) geht zurück auf einen Stoff von Charles Perrault, aus dem französischen Märchenbuch Contes de ma mère L’Oye (1697). Das Märchen ist durch eine junge Erzäh-lerin, die es aus ihrem französisch-sprachigen Elternhaus kannte, zu den Gebrüdern Grimm gelangt. Was den folgenden Hergang der Geschichte betrifft, sind sich beide Versionen gleich:

Nach dem Tod des Müllers muss der jüngste Sohn sich mit einem Kater als Erbteil zufrieden geben. Der Kater bit-tet den Jungen, ein paar Stiefel für ihn anfertigen zu lassen und bringt wie im Gegenzug mit viel Schläue und Tricks ein paar nützliche Dinge für den Müllersohn in Gang. Der darf sich zunächst viele Dienste des Katers ein-fach nur gefallen lassen, muss sich dann aber auch irgendwann einmal nackt in einen See stellen. Am Ende erhält er durch das kluge Treiben des Katers, auf das er sich einlässt, nicht nur den interessierten Blick einer Prin-zessin und das Schloss sowie die Län-dereien eines überwundenen Zaube-rers, sondern entwickelt sich zu einem wirklichen Grafen mit Braut und An-wartschaft auf den Thron. Der Kater ist am Ende selbst ein „gemachter Mann“ und in der Grimmschen Fas-sung Erster Minister.

Im Folgenden möchte ich sechs Ent-wicklungspositionen benennen, die sich in einem Therapieverlauf zeigen. Diese können anhand des Märchens (die Grimmsche Fassung dient dabei als Grundlage, siehe S. 65) in einem inhaltlich einheitlichen Rahmen dargestellt werden.

Position 1: Den schwarzen Peter vermeiden

Die erste Position im Märchen behan-delt die Erfahrung, dass ein vertrau-ensvolles sich Einlassen darin enden kann, plötzlich „den schwarzen Peter“ gezogen zu haben. Es gibt ja dieses Kinderkartenspiel, in dem durch gegenseitiges Ziehen von Karten Pär-chen zum Ablegen gesucht werden. Unter den vielen Karten befindet sich aber auch die so genannte Schwarze-Peter-Karte. Die sollte man nach Möglichkeit nicht ziehen, auf keinen Fall aber darf man auf ihr sitzen bleiben. Das völlig unerwartete Konfron-tiertsein mit einem Schwarzen Peter scheint das Bild für die Kehrseite zu sein, die zu der Lebensform eines un-schuldig vertrauenden Einlassenkön-nens gehört. Wahrscheinlich hat der Müllersohn darauf vertraut, dass ihm im Schutze der väterlichen Mühle und Geborgenheit nichts Schlimmes passieren könne und dass die Zukunft, wenn es darauf ankäme, nur Gutes für ihn bereithielte. Als der Vater stirbt, zeigt sich das besagte Verhältnis aber jetzt auch einmal von seiner Kehrseite: Er hat beim Erben nämlich als Jüng-ster die schlechtesten Karten (also den schwarzen Peter gezogen) und erbt nichts als den Kater, während sei-ne älteren Brüder die für einen rechten Müllersohn passenden Dinge erhalten, wie das Unternehmen selbst, also die Mühle, und das dazugehörige Transportunternehmen, den zur Mühle gehörenden Esel.

Es kann sein, dass der Müllersohn (oder der Klient) von einem bestimm-ten Erlebnis an beschlossen hat (und das könnte im Falle eines Klienten schon viele Jahre zurück liegen), sich nie wieder einer bestimmten Erfah-rung auszusetzen und von da an keine Karten mehr auf die Entwicklung hin ziehen zu wollen – denn dann kann ihn auch nie wieder der schwarze Peter erwischen. In diesem Falle bliebe sein Handeln aber regelrecht auf demselben sitzen. Er wäre auf das Prinzip „Pech gehabt“ fixiert. Alles würde sich von da an um das Vermeiden einer solchen Begegnung und um das vorbeu-gende Abwehren einer neuerlichen Erfahrung desselben drehen. Er würde versäumen, die ihm im Leben entgegenkommenden Dinge zu sehen und ihnen offen und in einer umschaffensbereiten Weise entgegenzugehen. Es ergäbe sich das Bild einer ernstzunehmenden strukturellen Einengung von Veränderungsspielräumen.


Bildquellen

  • Höhle: Karin Fischer