Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

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Aus all diesen Gründen meine ich, dass Profession und Wissenschaft voneinander unterschieden werden sollten. Beide Systeme unterscheiden sich hinsichtlich Relevanz, Status, Handlungs- und Organisationsform, der Zeitstruktur und der Wertsysteme. Man stellt sich im hierarchischen Modell ihre Verbindung als “Transfer” vor mit abwertenden Folgen für Professionelle. Der Verzicht auf das hierarchische Modell hingegen könnte wohltuende Folgen für das professionelle Selbstbewusstsein nach sich ziehen; Profession steht neben der Wissenschaft, nicht unter ihr.

Der Professionelle – man denke an Lehrer, Computerprogrammierer, Ärzte oder Manager – ist immer, so die Befunde der neueren Forschung zur Profession, Teil der Situation, auf die er reagieren soll. Das ist das allgemeine Paradox professionellen Handelns. Professionelle wenden nicht empirisch gefundene Variablen an. Für sie gibt es kein “Transfer”-Problem. Sie antworten auf Fragen, wie sie das machen, was sie machen, unwirsch mit Sätzen wie: “Warte, bis ich fertig bin!” (Hubert Dreyfus). Ohne Engagement verliert der Professionelle sein spezifisches, an die Situation gebundenes Wissen oder er gewinnt ein abgekühltes Verhältnis dazu, eine Temperaturveränderung, die ihm die Erbringung der professionellen Leistung nicht erleichtert. Das professionelle psycho-therapeutische Engagement kann man bestimmen als intelligente Form taktvoller Zugewandtheit, als lokale Tugend mit globalen Wirkungen.

Professionelle sind personal involviert und ziehen keineswegs nur wissenschaftliche Bestände heran, sondern alltägliche Erfahrungen und anschauliche Bilder, vergleichen weit entfernt auseinander liegende Gebiete. In der amerikanischen Literatur hat sich die Hierarchie umgedreht. Hier spricht man von den “science based pro-fessions”. Wissenschaft steht nicht richtend über den Professionen, sondern basiert sie. Die These lautet also: Professionelle Psychotherapie ist ein autonomes Interaktionssystem, in dessen Umwelt Wissenschaft vorkommt. Damit meine ich, dass auch andere Umwelten vorkommen: die Tagesform des Therapeuten, lokale Vorlieben einzelner Gruppen für bestimmte Theorien, die Angehörigen des Patienten. Psychotherapie findet in einer Umwelt statt, von der nur ein Teil Wissenschaft ist. Einer Sorge möchte ich Ausdruck verleihen. Würde man sich vorstellen, dass z.B. ein anderes professionelles Handlungssystem, die Pädagogik, ausschließlich so operiert, wie es die Lehrbücher der Sozialpädagogik vorschreiben, darf man sich fragen, ob das eine Verarmung oder eine Bereicherung wäre. Es wäre, als würden Ehepartner ihr Leben ausschließlich nach den Empfehlungen der Ratgeber-Literatur ausrichten. (*7)

Ich vertrete damit keine wissenschaftsfeindlichen Positionen, ganz im Gegenteil.(* 8). Ich würde bedauern, wenn Wissenschaft allein dominante Umwelt würde, weil damit die Autonomie der professionellen Praxis gefährdet wäre. Ich fände es z.B. eine Diskussion wert, ob nicht die Lektüre von zeitgenössischer Literatur, von Romanen, Dramen und Krimis, ob nicht auch Kenntnisse der großen Weisheitslehren wie der Upanishaden (*9)  oder Berichte über mystische Erfahrungen (Siirala 1961) in die Ausbildung von Psychotherapeuten gehören würde – neben wissenschaftlich methodische Ausbildung. (* 10) Kurz, Wissenschaft steht nicht über, sondern neben dem professionellen Handlungssystem der Psychotherapie in dem Bewusstsein, dass kein System besseres Wissen erzeugt, sondern anderes. Darin sehe ich einen Beitrag zur Anhebung des Selbstbewusstseins der professio-nellen Psychotherapeuten, das lange unter dem Diktum zu leiden hatte, „nicht-wissenschaftlich” zu sein. Psychoanalyse sei eine Lebensform, die Wissenschaft „zur Seite” habe, formulierte Stein (1979) – aber eben nicht: über sich. Der Glaube an Verbesserung allein durch Wissenschaft ist ein Stück kultureller Unbewusstheit, ein moderner Mythos, ein angestaubter Fortschrittsglaube. (*11)


Bildquellen

  • Psychoanalyse auf der Couch: Harald Keller