Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

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2. „Mehr Wissenschaft”

Eine zweite Strategie fordert Innovation durch mehr Wissenschaft. Grawe et al. (1994) haben deutlich gemacht, dass sie den Zustand der Psychotherapie insgesamt als von konfessionellen, sprich: religiösen Überzeugungen bestimmt sehen, und sie bringen dagegen in höchst traditioneller Manier das Geschütz der wissenschaftlichen Aufklärung, die sich immer schon antireligiös gebärdet hat, in Stellung. In der Tat: Viele fachliche Fragen werden unentschieden mitgeschleppt. Hier sind moderne Methoden der wissenschaftlichen Entscheidbarkeit gefordert – aber welche? Die Detailprobleme sind außerordentlich vertrackt. Ich nenne wenige Beispiele.

Wir wissen

  • immer weniger, worin sich „stützende Psychotherapie” von „Psychoanalyse” unterscheidet (Wallerstein 1990),
  • dass formale Diagnosen (wie z.B. im ICD oder DSM) und Behandlung wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben (Helmchen 1991),
  •  dass Prognosen über zu erwartende Behandlungsverläufe, die sich allein auf Patientenmerkmale stützen, lediglich 8-9% der Varianz des Out-come erklären (Kächele und Fiedler 1985; Bachrach et al. 1991),
  • dass die sog. Messungen, die von ratern vorgenommen werden, in Wirklichkeit Schätzungen sind, dass der Ausdruck “Messung” also Rhetorik ist, die die Ansprüche des Wissenschaftsbetriebs befriedigen soll; unter der Hand verwandelt diese Rhetorik psychoanalytische Qualität in eine fiktiv messbare Effizienz und untersucht sie mit den gleichen Methoden, wie man das Training in einem Sportverein im Hinblick auf das Gewinnen von Medaillen untersuchen könnte,
  •  aus einer empirischen Untersuchung von Raue et al. (1995), dass die theoretische Orientierung von ratern, ob sie also psychodynamisch oder be-havioral ausgerichtet sind, erheblichen Einfluss auf das nimmt, was sie selbst mit gut operationalisierten Instrumenten beobachten; abhängig von ihrer Grundorientierung wird dasselbe Transkriptmaterial völlig unterschiedlich beurteilt! Wie könnte es auch anders sein, wo wir seit Jahren wissen, dass es keine theoriefreien Beobachtungen geben kann (*2). Das ist nun sogar empirisch dokumentiert – die Diskussion der methodologischen Folgen steht noch aus.

Grawe (1995) selbst entwickelte seine “Allgemeine Psychotherapie”, indem er vier Therapeuten-Variablen als empirisch gut gesichert annimmt (Res-sourcenaktivierung, Problemaktu-alisierung, aktive Hilfe zur Problem-bewältigung und die Klärungsperspek-tive). Nachdem er diesen gemeinsamen Nenner dargestellt hat, regt er den Praktiker an, sich zu fragen:

„Beruhen die Probleme des Patienten auf fehlendem Bewusstsein für etwas und/oder auf einer ungeklärten oder konflikthaften Motivkonstellation und/oder auf einem Nicht-anders-können?” (Grawe 1995, S. 140)
Mögliche Problemquellen sollen so diagnostiziert werden. Eine solche Di-agnostik liefert in Anwendung empirischer Befunde jedoch nichts anderes als eine ziemlich einfache Psychologie. So fragen sich manche Pädagogen, ob der Schüler nicht genügend Voraussetzungen mitbringt („fehlendes Bewusstsein für etwas”), zu faul ist („konflikthafte Motivkonstellation”) oder zu dumm („Nicht-anders-können”). Der aufwändig zusammengebraute Extrakt aus der Forschung wiederholt nur die naive Alltagspsycho-logie.  Darüber ist Grawesruh eingekehrt.

Die Kluft zwischen Wissenschaft und Profession kann nicht durch verschärfte Anwendung eines physikalistischen Wissenschaftmodells überbrückt werden – auch empirische Psychothe-rapieforscher (Blatt 1995, Henry 1998) sehen mittlerweile sogar verhängnisvolle Folgen. Der Konsens, Forschung in der Psychotherapie habe sich ausschließlich an Gruppendesigns und biostatistischen Kriterien auszurichten, ist durchbrochen (Waldvogel 1997). Es darf und es muss wieder darüber diskutiert werden, welche Wissenschaft zur Erkundung psychotherapeutischer und insbesondere psychoanalytischer Prozesse angemessen ist – und welche bezahlt werden soll.


Bildquellen

  • Psychoanalyse auf der Couch: Harald Keller